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Von historisch-geographischen Gründen abgesehen, fordern logische, den Fluss und die Süsswassertiere, die nicht alle gedankenlos eingeführt sein können, als ursprünglicher anzusehen. Das Meer ist dagegen eine so häufige formelhafte, aus dem Prinzip der Steigerung zu erklärende Bezeichnung für eine breite Wasserfläche, dass es nicht wundernehmen kann, wenn es auch hier so oft an die Stelle des Flusses tritt.

Ähnlich verhält es sich mit dem Abschluss des Zaubervogelmärchens in der auffallend unplastischen Rekonstruktion von Aarne. Wie K. Krohn bereits richtig bemerkte, ist die Gegenspielerin des goldspeienden Helden eine Königstochter, die von einer Zauberin zu ihrem Betruge angestiftet wird[1]. So mildert sich gewissermassen ihr Vergehn, und es ist verständlich, dass ihr der Held, der sie ja doch begehrt, die menschliche Gestalt wiedergibt, um sie heiraten zu können. Aarne hat diesen notwendigen und zugleich formelhaften Ausgang nicht beachtet: er schliesst mit der ‘Zurückgewinnung der menschlichen Gestalt, nachdem die Strafzeit lange genug gedauert hat’. Sein Held bekommt auf diese Weise eine fatale Ähnlichkeit mit einer Gouvernante, die das unfolgsame Kind solange im Winkel stehn lässt, bis die Strafe ihrer Anschauung nach einen bleibenden Eindruck gemacht haben dürfte. Demgegenüber muss aber betont werden, dass auch das Stilgefühl ein ergänzendes, wertvolles Mittel der Kritik ist, das man am wenigsten bei der Untersuchung der Märchen aus der Hand geben sollte, die so stark wie wenige andere literarische Gattungen dem Einfluss der mündlichen Tradition unterworfen gewesen sind, der sie die Abrundung zum Typischen und das Erstarken des Formelhaften zu danken haben.

Ein anderes Beispiel zeigt, wie Aarne solchen individuellen Zügen, die man bei flüchtigem Betrachten als verderbt bezeichnen könnte, zugleich aber auch einem Grundprinzip der inneren Formgebung des Märchens nicht gerecht wird.

Im wahrscheinlich indischen Zaubervogelmärchen wird zumeist nicht angegeben, welcher besonderen Gattung der Vogel angehört[2]. Abgesehen von gelegentlichen Benennungen figuriert in Kaschmir und Hinterindien je einmal ein Papagei, im Norden Europas und in Sibirien nicht selten eine Gans oder Ente, sonst öfter noch ein Huhn. Häufig dagegen sind rühmende Epitheta wie schön, prachtvoll, golden, goldfarbig, bunt. Aarne meint nun, die Bestimmung der Art des Vogels sei ohne Zweifel ein späterer Zusatz. Die Angaben sind freilich widersprechend, und da Aarnes Augenmerk nur auf die allgemeiner verbreiteten Züge gerichtet ist, kommt er zu keinem befriedigenden Ergebnis. Er legt sich aber auch gar nicht die Frage vor, was jene bestimmten Bezeichnungen wohl für einen Sinn haben und wie sie in die Märchen gelangt sein können.


Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1915, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_25_159.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)