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aus Widerwillen gegen das, was er selbst erlitten hatte, zwang er die Menschen, von der rohen Kost zu einer milderen Nahrung überzugehen. Seine Schicksale würden fabelhaft scheinen, wenn nicht auch von den Stiftern der Römer erzählt würde, dass sie von einer Wölfin ernährt, und von Cyrus, dem Könige der Perser, dass er von einer Hündin gepflegt worden sei. Von ihm wurden auch die Sklavendienste dem Volke untersagt und das gemeine Volk in sieben Städte verteilt. Nach Habis Tode behielten seine Nachfolger das Königtum viele Jahrhunderte hindurch.

Justinus, welcher in seinem Werke auch die Kyros- und Romulus- und Remusgeschichte erzählt (I, 4. XLIII, 2), hat bereits erkannt, dass die Habisgeschichte zu diesen Sagen von der Herkunft der Herrschergeschlechter und der Gründung mächtiger Reiche gehört. Sie bildet jedoch auch einen Übergang von diesen Sagen zu der Erzählung von dem Schicksalskind. Die Prophezeiung fehlt, die Gunst der Göttin des Schicksals dem Knaben gegenüber wird jedoch zweimal ausdrücklich erwähnt. In den ältesten buddhistischen Texten ist der Knabe niedriger (unehelicher) Herkunft, dabei aber der wiedergeborene Buddha (Ghosaka) selbst. Habis ist vornehmer Herkunft, aber ein uneheliches Kind und deswegen von seinem Grossvater verstossen. Die Geschichte seiner Schicksale verbindet die mehrfache Aussetzung der ältesten buddhistischen Texte mit dem Werfen ins Meer der Thalassiongeschichte – eine Verbindung, welche auch in dem türkischen Roman vorkommt. Die weitere Handlung, das Leben des Knaben in der Hirschherde, hat in keiner anderen Fassung die mindeste Analogie.

Obwohl die Habisgeschichte nicht als direkte Grundlage für die späteren Fassungen gelten kann, so bringt sie doch den Beweis, dass ursprünglich eine Herkunftsage existierte, welche die zwei Verfolgungsmotive (die mehrfache Aussetzung und das Werfen ins Meer) enthielt, und erst später mit dem Todesbriefmotiv verbunden wurde. Der türkische Roman, obzwar späterer Herkunft, behielt diese Form, während in Indien das Meer und in Ägypten und Abessynien die Aussetzung weggelassen wurde. In den westeuropäischen Fassungen erwacht die alte Herkunft- und Gründungsage wieder.

Die ältesten Fassungen des Märchens von dem Schicksalskind sind die altgriechischen und lateinischen Erzählungen von den königlichen Schicksalskindern Oidipus, Kyros, Romulus und Remus.

Die für den Helden unheilvolle Prophezeiung der Oidipussage gab in der christlichen Literatur zu einer Reihe von Legenden (Judas, Gregorius auf dem Stein, Paulus von Caesarea, Albanus, Andreas usw.) Anlass. Die einzelnen Motive jedoch: die Aussetzung im Gebirge, die Auffindung durch den Hirten, das Werfen ins Meer, die Erziehung durch einen König, lassen eine Verwandtschaft dieser Sage mit der Geschichte des zu Macht und Glück bestimmten Schicksalskindes vermuten. In der Kyros- und Romulus- und Remussage überwiegt das Motiv der Gründung

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Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 29. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1919, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_29_029.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)