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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

sind, sondern mehr von außen an sie herankommen. Es sind meistens Juristen oder Ärzte. Wenn sie, durch den Gegenstand veranlaßt, soziologische Kategorien bei ihrer Arbeit verwenden, sind diese der naiven Erfahrung entnommen oder bestenfalls, wenn sie wissenschaftlich fundiert sind, ausschließlich sozialpsychologischer Natur.

Sicherlich hat die neuere Kriminologie, z. T. angeregt durch die Psychoanalyse, wertvolle Erkenntnisse namentlich über die individuellen und sozialen Ursachen des Verbrechens und über die sozialpsychologischen Funktionen der Strafe geliefert. Aber es fehlt diesen Forschungen die Fundierung in den Grundprinzipien aller gesellschaftlichen Erkenntnis. Sie stehen weder mit der ökonomischen Theorie in Verbindung, gehen also nicht auf die materiellen Grundlagen der Gesellschaft zurück, noch sind sie historisch orientiert. Das heißt, sie implizieren eine Konstanz der sozialen Struktur, wie sie in der Wirklichkeit nicht vorhanden ist, und verabsolutieren unbewußt die dem Beobachter gegenwärtigen sozialen Zustande. Sie begeben sich dadurch der vielseitigen Erkenntnismöglichkeiten, welche darin liegen, daß man den Wandel dieser Zustände untersucht und die davon ausgehenden Wirkungen historisch ableitet. So läßt sich etwa die gesellschaftliche Funktion des Verbrechens und der Strafjustiz weit über das bisher Geleistete aufhellen, wenn man einige einfache Sätze der ökonomischen Theorie anwendet und nicht einen mehr oder weniger stationären Zustand der Klassenverhältnisse voraussetzt, sondern deren säkulare Umwälzungen zugrunde legt. Einige Grundgedanken einer solchen Untersuchung sollen an dieser Stelle der Beurteilung zugänglich gemacht und damit ihre Diskussion vorbereitet werden.

Obwohl in der Kriminologie höchst komplizierte Verhältnisse vorliegen, insbesondere biologische und psychologische Differenzierungen, von deren Erkenntnis wir noch weit entfernt sind, vermag unabhängig davon die ökonomische Theorie und die historische Betrachtung doch wohl Beiträge zur Klärung vieler Fragen zu liefern. Man darf nur die durch ökonomische und historische Argumentation aufweisbare Abhängigkeit der Phänomene des Verbrechens und der Verbrechensbekämpfung nicht für ihre vollständige Erklärung halten. Die durch eine solche Analyse als wirksam erkannten Kräfte bestimmen nicht allein den Gegenstand unserer Untersuchung, und sie ist daher nach mehreren Richtungen beschränkt und vnvollkommen.

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_2_-_Heft_1.pdf/66&oldid=- (Version vom 12.6.2022)