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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

bestimmt ist. Es ist ohne weiteres einzusehen, daß diese Schichten über andere Güter als ihre Arbeitskraft nicht verfügen und daß daher der Arbeitsmarkt diese entscheidende Kategorie ist. Anders wird sich die Lage der arbeitenden Klasse darstellen in einer Wirtschaft, in der eine große Reservearmee hungernden Proletariats den Arbeitgebern nachläuft und den Lohn für jede angebotene Arbeitsgelegenheit auf ein Minimum herabkonkurriert, anders in einer Wirtschaft, in der die Arbeiter knapp sind, etwa weil freier Boden vorhanden und daher niemand gezwungen ist, durch abhängige Arbeit seinen Lebensunterhalt zu fristen, wo die Arbeitgeber um die wenigen zur Verfügung stehenden Arbeiter konkurrieren und den Lohn in die Hohe treiben.

Natürlich ist durch Arbeiterknappheit oder Menschenüberfluß noch nicht eindeutig die Lage auf dem Arbeitsmarkt bestimmt. Politische Eingriffe können das Spiel von Angebot und Nachfrage korrigieren. Bei Arbeitermangel können z. B. die Arbeitgeber versuchen, durch rechtlichen Druck den fehlenden wirtschaftlichen Druck zu ersetzen, etwa Sklaverei einzuführen oder sonstige Formen der Zwangsarbeit, Maximallöhne festzusetzen oder ähnliche arbeits rechtliche Maßnahmen zu treffen; bei Arbeiterüberfluß können die Gewerkschaften durch Zurückhaltung des Angebotes oder der Staat durch sozialpolitische Maßnahmen, insbesondere durch Zahlung von Unterstützung an die Arbeitslosen, den Lohn vor dem Absinken in das Bodenlose schützen. Je nachdem, welcher dieser Fälle vorliegt, wird der Strafvollzug andere Aufgaben zu erfüllen haben.

Arbeitslose Massen, die vor Hunger und Not zu Verzweiflungsdelikten neigen, wird man davon nur durch grausame Strafen abhalten können. Am praktikabelsten erscheint in solchen Fällen schwere körperliche Züchtigung der Verbrecher, wenn nicht ihre rücksichtslose Vernichtung. In China, mit seiner großen Reservearmee elenden und hungernden Proletariats, das teils in die Städte flutend seine Arbeitskraft um jeden Preis zu verkaufen gezwungen ist, wenn es überhaupt Arbeit findet, teils in großen, ewig einander befehdenden Söldnerbanden zusammengelaufen ist, würde die bloße Tatsache, daß man ihnen zu essen gibt, den Verbrechern das Gefängnis zum Anreiz, nicht zur Abschreckung machen. Freiheitsstrafen gibt es daher dort nur, wo sich europäischer Einfluß geltend macht, und sie sind von einer unbeschreiblichen Grausamkeit im Vollzuge. "Jeder sozial denkende Mensch, der nach China kommt", schreibt Agnes Smedley in einem lesenswerten Bericht über "Gefängnisse

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_2_-_Heft_1.pdf/70&oldid=- (Version vom 14.6.2022)