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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

in China"[1], "empfängt einen überaus traurigen, niederschlagenden Eindruck, wenn er sehen muß, wie gering ein gewöhnliches Menschenleben wiegt. — Besonders kraß wird man sich dieser Mißachtung bewußt, wenn man bedenkt, wie hier erwischte Übeltäter jedweder Art erschossen, gehängt oder geköpft werden, ohne daß diese Hinrichtungen kaum mehr als flüchtige Beachtung fänden."

In einer Gesellschaft, in der die Arbeiter knapp sind, wird der Strafvollzug ganz andere Funktionen haben. Er braucht dort nicht hungernde Massen von der Befriedigung elementarer Bedürfnisse abzuhalten. Wenn jeder, der arbeiten will, auch Arbeit findet, die unterste soziale Schicht aus unqualifizierten Arbeitern und nicht aus in Not befindlichen Arbeitslosen besteht, kann der Strafvollzug sich damit genug sein lassen, Arbeitsunwillige zur Arbeit zu bringen und sonstige Verbrecher zu lehren, daß sie zufrieden zu sein haben mit dem Auskommen eines ehrlichen Arbeiters. Noch mehr: wenn die Arbeiter knapp sind, wird der Lohn hoch sein. Dann aber wird es sich rentieren, Verbrecher einzusperren und für ihre bloße Nahrung arbeiten zu lassen. Denn die Kosten der Bewachung und des Zwanges werden immer noch weniger betragen als die Differenz zum normalen Lohn. Daher besteht in allen Gesellschaften, in denen Arbeitermangel herrscht, eine Tendenz zur Abkehr von Körperstrafen und von der Vernichtung der Verbrecher. Auch der Verbrecher ist als Arbeitskraft noch wertvoll, man tötet ihn nicht gerne, sondern verwertet ihn, wenn es geht. Zwangsarbeit ist das geeignete Strafmittel.


IV.

Diese in rohen Umrissen entwickelte ökonomische Theorie des Strafvollzuges scheint mir der Schlüssel zur Lage des Strafwesens zu sein. Es wäre aber ganz verfehlt, sie unmittelbar so, wie sie hier vorgetragen wurde, auf die Gegenwart anzuwenden.

Wichtige Eigentümlichkeiten des heutigen Strafwesens lassen sich nämlich nicht aus der heutigen sozialen Situation erklären. Ginge man von der Interessenlage der gegenwärtigen Gesellschaft aus. so ließen sich ganz andere Möglichkeiten angeben,um die durch die Tatsachen des Verbrechens gestellten Aufgaben rational zu bewältigen. Daß unser Strafwesen in seinen heutigen Formen vorliegt, ist zu einem großen Teil nur aus der Interessenlage vergangener Epochen verständlich, in denen es seine erste Prägung fand. Es

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_2_-_Heft_1.pdf/71&oldid=- (Version vom 14.6.2022)
  1. Frankfurter Zeitung 15. 9. 1930.