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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1

Rache des Verletzten. Um zu verhüten, daß diese in Fehde, Blutrache und Anarchie ausartete, beimühte sich die Gesellschaft um Beilegung. Man betrachtete Verbrechen als eine Art Krieg, und einem Gesetzgeber mußte es vielmehr darauf ankommen, Feinde nach anerkannten Grundsätzen zu versöhnen, als Verbrechen durch ein Strafrecht im heutigen Sinne zu bekämpfen.

Im späteren Mittelalter änderte sich die Situation vollkommen. Waren, wie Schmoller sagt, bis dahin "die Menschen begehrter als die Grundstücke"[1], so kam es nunmehr mit dem Wachsen der Bevölkerung zur Besetzung des Bodens und damit Überflutung des vorhandenen Lebensraums. Es beginnt eine Klassenspaltung in Reiche und Arme, hablose Arbeiter entstehen, die den Lohn herunterkonkurrieren und erstmalig eine Art kapitalistischer Produktionsweise ermöglichen; Bettlerheere, soziale Unruhen, Aufstande, die in Deutschland im Bauernkrieg kulminieren, sind die Folge. Die Kriminalität änderte vollkommen ihr Bild. Es ergab sich ein rapides Zunehmen der Eigentumsdelikte. Die Züge der Bettler und die Rotten der Diebe und Räuber wurden zur Landplage. Dadurch mußte sich das Arbeitsfeld der Justiz völlig ändern. Hatten im Mittelalter die Vermögensstrafen den Vorzug vor den Leibesstrafen, so verfing jetzt das überkommene Geldstrafensystem nicht mehr. Bei diesen Verbrechern war nichts zu holen. Langsam trat an die Stelle der bisherigen Strafen die Geißelung, Verstümmelung und Tötung, zunächst noch ablösbar durch Geld, dann als Universalstrafmittel, das allein noch einen gewissen Schutz gegen die Kriminalitat der sich ansammelnden hablosen Massen zu gewähren schien. Die grausamste Phantasie reicht kaum aus, um sich einen Begriff von jener Justiz zu machen, die bald neben dem Banditen und Mordbrenner auch den Vagabunden ins Verderben riß und bei der Vernichtung der arbeitslosen Proletarier landete.

Um 1600 änderten sich die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt abermals grundlegend. Das Arbeitsangebot verknappte sich, sei es infolge der Ausweitung der Märkte durch die Entdeckungen, den Edelmetallzustrom aus der neuen Welt, sei es durch die Kriege und Seuchen, namentlich den 30jährigen Krieg, und die in ihrem Gefolge eintretende Verminderung der Bevölkerung. Es entstand dadurch eine Periode fühlbaren Arbeitermangels. Die Löhne der Arbeiter stiegen, und die Lebenshaltung der unteren Klassen besserte sich erheblich.

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_2_-_Heft_1.pdf/74&oldid=- (Version vom 21.6.2022)
  1. Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, II, Leipzig 1901, S. 513.