Seite:Zeitschrift für Volkskunde I 087.png

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Lithauische Märchen.
Von
Fr. RICHTER.
Der einäugige Riese.

Eines Tages landete ein Schiff an einer Insel. Der Herr des Schiffes begab sich, froh eine lange und mühselige Seereise überstanden zu haben, mit seinen Leuten an das Land. Um Essen zu kochen, wurde ein Herd von Steinen errichtet. Als die Aufschichtung der Steine soweit vorgeschritten war, sah man sich nach einem grossen, glatten Steine um, welcher die Herdplatte bilden sollte. Endlich fanden einige der Suchenden am Fusse eines Berges einen Stein, welcher zu dem gewünschten Zwecke sehr geeignet schien. Schnell riefen sie ihre Gefährten herbei, und alle schickten sich an, den Stein aufzuheben. Als dies glücklich geschehen war, sahen die Schiffer zu ihrem Erstaunen, dass der grosse, glatte Stein eine weite Oeffnung verdeckt hatte, welche jetzt sichtbar wurde. Schnell legten sie die Platte beiseite und stiegen, da breite Stufen die Oeffnung hinabführten, in die Höhlung des Berges hinunter. Bald wurden sie inne, dass sie sich in der Wohnung eines Riesen befanden. Dieselbe erwies sich als so gross, dass man vom Boden derselben nur mit Mühe bis hinauf zur Wölbung sehen konnte. In derselben befand sich eine Oeffnung, so dass durch sie das Tageslicht einfallen, der Rauch des Herdfeuers aber abziehen konnte.

Als sich der Schiffsherr und dessen Leute noch die Riesenwohnung besahen, erdröhnte plötzlich der Boden. Wenige Augenblicke darauf betrat ein Riese, so hoch wie ein Turm, die Steinstufen und stieg, nachdem er den Eingang wieder mit der Steinplatte verschlossen hatte, durch die Oeffnung hinab in den Berg. Darauf schichtete der Riese auf dem Herd einen ganzen Wald von Bäumen auf und entzündete dieselben. Bei dem Schein des Feuers sahen die Schiffer zu ihrem Entsetzen, dass das Ungetüm nur ein Auge hatte: das Auge aber stand mitten auf der Stirn. Voll Entsetzen suchten einige von den Schiffern zu entfliehen und eilten dem verschlossenen Eingange zu. Jetzt aber

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_087.png&oldid=- (Version vom 21.7.2023)