Seite:Zeitschrift für Volkskunde I 088.png

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erblickte sie der Riese, erfasste einen von ihnen und verzehrte den Zerdrückten wie einen kleinen Bissen. Die andern scheuchte er wieder in das Innere seiner Wohnung zurück.

Darauf schürte er das Feuer an, dass es lichterloh aufflammte. Die Riesenwohnung erdröhnte von dem Geprassel der Flammen und eine Feuerlohe, vermischt mit Dampf und Asche, stieg durch die Oeffnung im Gewölbe zum Himmel empor. Sodann begann der Riese seine Schafe zu melken, welche sich in einem Nebengelass in der Höhle befanden. Alsdann setzte er einen gewaltigen Kessel an das Feuer, um darin die Milch aufzukochen. Der Kessel war so gross wie ein Teich, und der Löffel wie eine Wanne, worin man Kinder badet. Kaum hatte die Milch aufgekocht, so trank sie der Riese, und als der Kessel leer war, legte er sich auf sein Lager von Moos und schlief bald darauf ein. Es währte nicht lange, so schlief er so tief und schnarchte so laut, dass der ganze Berg erzitterte.

Als die entsetzten Schiffer sahen, dass der Riese in Schlaf gesunken war, kehrte ihnen der Mut zurück. Der Schiffsherr entwarf sofort einen Plan zu ihrer Rettung. Er hatte eine grosse, eiserne Stange, den Bratspiess des Riesen, bemerkt. Schnell liess er die Spitze dieser Stange im Feuer des Herdes rotglühend machen, darauf stiess er sie mit Hilfe seiner Leute dem Ungetüm in das Auge. Das glühende Eisen zischte laut auf. Ein dicker Blutstrahl schoss aus dem Auge des Riesen hervor. Die niederfallenden Tropfen sengten wie glühendes Wasser, also dass die Schiffer sich eilig zu bergen suchten. Voll Wut sprang der Riese auf und brüllte vor Schmerz so laut, dass der ganze Berg einen Riss bekam: er erfasste das Eisen und warf den glühenden Bratspiess mit solcher Gewalt gegen die Wand des Berges, dass er dieselbe so leicht durchbohrte, als durchschiesse man mit einem Pfeile eine Scheibe von Papier. Dann tappte er mit den Händen die Wände und den Boden entlang, um die Missethäter zu fangen, die Schiffer und ihr Herr aber hatten sich im Schafstalle geborgen und entgingen so dem Riesen glücklich.

Da geriet dieser in eine furchtbare Wut; er ergriff das brennende Holz vom Herde und schleuderte es überall hin, um seine Feinde zu verbrennen. Aber statt dessen fing das Moos seines Lagers an zu brennen und bald füllte sich seine Wohnung mit so dichtem Rauch und Qualm, dass der Riese genötigt wurde, dieselbe zu verlassen. Er setzte sich vor dem Eingang derselben nieder und fühlte immer von Zeit zu Zeit darüber hin, dass ihm die Missethäter nicht entgingen. Aber der Schiffsherr ersann einen neuen Plan zur Rettung: er band einen jeden seiner Leute je unter einem Schafe fest, er selbst aber klammerte sich unter dem Leithammel an und entkam so, als die Schafe die Ställe verliessen, glücklich mit allen seinen Leuten dem wilden Riesen.

Als alle wieder auf dem Schiffe waren, konnte sich der Schiffsherr nicht enthalten, dem Riesen höhnende Worte zuzurufen. Dieser ergriff einen gewaltigen Felsblock und warf damit nach der Richtung hin, woher die Stimme gekommen war. Er traf auch so glücklich, dass der Felsblock den hintern Teil des Schiffes zerschmetterte und einige Mann

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_088.png&oldid=- (Version vom 21.7.2023)