Seite:Zeitschrift für Volkskunde I 093.png

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jüngere Bruder. Bald hatte er sie eingeholt. Diese kannten ihn immer noch nicht wieder, sondern hielten ihn für einen vornehmen Herrn. Der jüngste Bruder liess nun scheinbar aus Versehen ein golddurchwirktes Tuch fallen. Sogleich hob der älteste Bruder dasselbe auf und steckte es ein. Kurze Zeit darauf liess der jüngste Bruder ein zweites Tuch fallen. Kaum hatte der zweite Bruder das gesehen, so nahm er das Tuch an sich. Endlich kamen die drei zu Hause an. Hier gab sich der jüngste Bruder zu erkennen, und obgleich er die vielen kostbaren Kleider und golddurchwirkten Tücher hatte und das feinste Brot von der Welt heimbrachte, so klagten ihn doch seine Brüder des Betruges an. Deshalb sagte der Vater: „Ich will mich diesmal nicht entscheiden. Zieht wieder aus und wer dann in Jahr und Tag die schönste Frau heimbringt, der soll das Haus haben und mein Erbe sein.“

Die beiden Brüder nahmen wieder Dienste in dem Hofe, in welchem sie das Jahr zuvor gewesen waren; der jüngste aber kehrte zur Schlange in der Waldhütte zurück. Nachdem er derselben wieder ein Jahr gedient hatte, schickte er sich an heimzukehren. Die Schlange fragte ihn, was er an Lohn haben wolle. „Gar nichts,“ sagte der junge Mann, „nur hat mein Vater gesagt, dass derjenige das Haus haben und sein Erbe sein soll, welcher die schönste Frau heimbringt.“

„Bevor Du gehst,“ bat die Schlange, „thue mir noch einen grossen Gefallen. Heize den Ofen neunmal, dann wirf mich in denselben hinein. Darauf maure den Ofen zu. Dann wird ein furchtbares Geschrei darin entstehen, Du darfst den Ofen aber nicht öffnen. Erst wenn Dich eine freundliche Stimme ersucht zu öffnen, so schlage den Teil des Ofens ein, welchen Du zugemauert hast.“

Der junge Mann that alles, wie es ihm gesagt war. Wohl hörte er ein jammervolles Schreien im Ofen, aber er achtete nicht darauf und erst als eine zarte Stimme ihn bat: „Oeffne, bitte, den Ofen,“ da brach er die Vorderseite desselben ein. Kaum war dies geschehen, so kam aus dem Ofen eine prächtige Kutsche angefahren, welche von zwei feurigen Rappen gezogen wurde. In der Kutsche sass eine wunderholde Prinzessin. Diese begrüsste den jungen, schönen Mann und dankte ihm, dass er ihre Erlösung vollbracht habe. Dann forderte sie ihn auf, sogleich kostbare Kleidung anzulegen und sich zu ihr in die Kutsche zo setzen. Kaum war dies geschehen, so zogen die Rappen an und die Kutsche rollte dem Vaterhause des jungen Mannes zu. Dort waren schon die beiden ältern Brüder mit ihren hässlichen Weibern. Als der jüngste Bruder mit seiner holdseligen Prinzessin das Zimmer betrat, war des Staunens ob ihrer Schönheit kein Ende. Aber das schöne, junge Paar begrüsste nur den alten Vater, dann bestieg es wieder die Kutsche und fuhr zum Vater der Prinzessin, welcher ein mächtiger König war. Bald wurde die Hochzeit des jungen Paares mit grosser Pracht gefeiert.

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_093.png&oldid=- (Version vom 21.7.2023)