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dass sie die Gesänge hervorgebracht hat, welche sich dann allmählich nach Westen verbreitet hätten. Aber hiergegen sprechen alle Angaben, welche man von den Sängern über die Richtung der Ausbreitung der Runen erhielt. Ausserdem ist zwischen den Kalevalasängern und den nunmehr russischen Küstenbewohnern ein ziemlich breiter Keil von Kareliern eingeschoben, welche keinen einzigen Vers unseres Gesanges kennen. Dieser Umstand könnte vielleicht so erklärt werden, dass der russische Einfluss dort die nationalen Gesänge schon in Vergessenheit gebracht hätte. Doch ein ähnlicher Keil von den Gesang nicht pflegenden Kareliern findet sich auch nördlich vom Gesangsgebiete, wo der russische Einfluss ziemlich schwach ist und wo die einzigen Nachbarn, die armseligen, spärlich verstreuten Lappen, unmöglich einen wesentlichen Einfluss auf die Kunst des Gesanges haben ausführen können.

Die wirkliche Ursache zu dieser merkwürdigen Thatsache wurde erst vom Magister Borenius entdeckt. Er richtete nämlich seine Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass die Sprache der den Gesang pflegenden Karelier im Gouvernement Archangel sowie der Sänger selbst wesentlich von der der übrigen russischen Karelier abweicht. Die letzteren sprechen nämlich die Konsonanten k, p, t weich aus. (z. B. pugu, vibu, kodi), während die Aussprache der ersteren dagegen mit den in Finnland gesprochenen Dialekten übereinstimmt. Ebenso kommen in den Gesängen und teilweise auch in der Sprache der Sänger eine grosse Menge aus dem Schwedischen entliehener Worte vor, welche für die eigentlichen russischen Karelier vollständig unbekannt sind. Die Sache erhält ihre völlige Erklärung, da wir durch übereinstimmende Traditionen, die noch in der Bevölkerung fortleben und von Castrén, Lönnrot und Borenius aufgezeichnet sind, erfahren, dass die Runengesänge und somit unzweifelhaft auch die Gesänge aus Finnland vor 5 oder 6 Menschenaltern herübergekommen sind, wahrscheinlich zur Zeit des „Grossen Unfriedens“, da die Finnen in grosser Zahl, wie bekannt, sich auch in den nördlichen Finnmarken eine Zuflucht gesucht haben.

Ausserdem haben sich in den Gesängen viele Kennzeichen erhalten, welche die Ansicht von ihrem Ursprunge aus Finnland bestätigen. Sie enthalten nämlich oft Worte und Formen, welche der Mehrzahl der russischen Karelier vollkommen fremd sind, ja manchmal sogar den Sängern selbst. Ein solches Wort ist z. B. vaimo, das Weib, welchem im russischen Karelien nainen entspricht. Deshalb wird dort einige Male im Gesange von der Brautfahrt Lemminkäinens, in dem Verse, wo er seine Mutter um passende Kleider bittet: Emoseni, vaimo vanha (Meine Mutter, altes Weib), das unbekannte finnische Wort in vaino, Hass, verdreht, sodass der Satz allen verständlichen Sinn verliert. In den Gesängen kommt sehr oft die kürzere westfinnische Form des Genitivus pluralis vor, z. B. miesten, naisten, der für die Sänger so vollständig unbekannt ist, dass sie zuweilen mieste für den Stamm ansehen und in den Runen einen Nominativ Pluralis miestet anstatt miehet (die Männer) gebrauchen.

Ferner kommen in den Gesängen, besonders in den Zauberrunen, ziemlich oft Namen von Heiligen vor, die in Russisch-Karelien alle ohne Ausnahme römisch-katholisch sind, während dagegen von einer

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_124.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)