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zu erhärten versucht. Nachdem er erst gleicherweise auf die Gesangesarmut bei allen zum westfinnischen Zweige gehörenden Stämmen hingewiesen hat, will er auch zeigen, dass die Dialekte derselben, mehr konsonantisch und weniger vokalisch wie sie sind, sich nicht vollständig für das Metrum der Runen eignen. Die zweite Alternative dagegen hat auch für sich eine nicht geringere Autorität, nämlich Castrén, der schon die Aufmerksamkeit darauf richtete, dass man gleichwohl in Westfinnland verschiedene Kalevalastoffe vorgefunden habe, wenigstens in ungebundener Form. Und zu Gunsten dieser Ansicht wird die Wagschale durch eine in unserer kritischen, autoritätslosen Zeit noch wichtigere Sache gesenkt, nämlich durch eine Menge freilich kleiner, doch insgesamt bindender Beweise.

Zuvörderst ist jetzt die Behauptung von der allgemeinen Gesangesarmut der Westfinnen unhaltbar, seitdem man in den letzten paar Jahrzehnten in Esthland alte Gesänge zu Tausenden[1] aufgezeichnet hat. Auch in Westfinnland ist es geglückt, recht vielen Zuwachs zu dem früher bekannten Vorrate zu erhalten, teils in gebundener Form (lyrische und magische Gesänge, selten epische Fragmente), teils in ungebundener (epische Remiscenzen). Unter den ersteren können genannt werden Fragmente des Gesanges von dem vom Jäger Lemminkäinen verfolgten Elentiere, die grosse Eiche, von Lemminkäinens zweitem Besuche in Pohjola, vom Raube des Sampo; unter den letzteren Erinnerungen von der Goldbraut, von dem Raube des Sampo, und besonders zahlreich von den Riesenarbeiten und der Rache des Kalevala Sohnes (Kullervo). Dazu kommt noch, dass verschiedene in epischen Gesängen vorkommende Namen, wie besonders Kaleva, Untamo und Sampo, recht häufig als Ortsnamen gerade im westlichen Finnland angetroffen worden sind, meistens schon in Dokumenten aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Schliesslich darf nicht unerwähnt bleiben, dass nach Agricolas Meinung Wäinämöinen und Ilmarinen, die hervorragendsten Helden in unserem Epos, als die Götter der Tawasten, nicht der Karelier bezeichnet werden. Die jetzt herrschende relative Gesangesarmut ist offenbar nur bewirkt durch die moderne, hier tiefer eingedrungene Civilisation. Dieselbe Erscheinung hat man auch schon beinahe ebenso deutlich in den Küstenkirchspielen des Lehns von Uleaborg und in Savolaks. In diesen beiden Landschaften floss die Quelle des Gesanges im Anfange dieses Jahrhunderts noch recht reichlich; jetzt ist dort die Epik versiegt, und auch die Lyrik und die Zauberrune sind im Aussterben begriffen. Zweitens zeigen diese Gesänge der Westfinnen keineswegs eine Unbeuglichkeit der Dialekte für das altfinnische Versmass, sondern deren konsonantenreiche Formen fügen sich, wenn sie nur von einer geschickten Hand behandelt werden, ebenso leicht und gefällig darein.

Einen guten Fingerzeig beim Nachspüren nach den Wegen des alten Gesanges kann uns die Richtung geben, in welcher neuere Dichtungen gewandert sind. Diese geht zum grössten Teile immer von Süden

  1. Die gegenwärtige Anzahl der gesammelten esthnischen Lieder beträgt ungefähr 10000, wovon mehr denn die Hälfte auf Antrieb Pastor J. Hurts in Petersburg, eines geborenen Esthen, aufgezeichnet sind.
Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_126.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)