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Sagen und Märchen aus Ostgalizien und der Bukowina.
Von
R. F. Kaindl.
1. Der Masuren (Mazuren) Herkunft.

Wenn man Galizien und die Bukowina durchwandert, so trifft man hier und da in den Orten Leute, welche sich nach Gestalt, Tracht und Sprache von den übrigen Einwohnern unterscheiden. Es sind dies die Masuren. Sie werden von den Bewohnern des Landes gemieden, denn sie gelten für verschlagen und roh. Wo dieselben ihren Ursprung genommen haben, das erzählt uns folgende Geschichte.

Einstmals war eine wilde Nacht. Der Sturmwind brauste über die Heide dahin, dazu stieg am Himmel ein furchtbares Gewitter auf. Lang hin rollten die Donnerschläge, grelle Blitze zuckten am Himmel hin und her und der Regen quoll in Strömen hernieder. Da entflog der schwarzen Gewitterwolke eine riesige Eule von gräulichem Aussehen. Die Eule flog zur Erde herab und liess sich an einer wüsten Stelle nieder. Nachdem sie dort ein Weilchen gesessen hatte, flog sie wieder zu den Wolken auf. Darauf verzog sich das Gewitter.

An der Stelle, wo die Eule gesessen hatte, lag ein grosses, geflecktes Ei. Da kam ein Schwein herzu und bebrütete das Ei. Als dasselbe das Ei eine gewisse Zeit bebrütet hatte, verliess das Schwein das Ei und ein Ochse nahm seine Stelle ein. Nach einiger Zeit löste den Ochsen ein Wolf ab, später machte dieser dem Teufel Platz.

Als die Zeit des Brütens um war, entfernte sich der Teufel. Da zerbrachen die Schalen des Eies, und aus dem Ei hob sich die Gestalt eines Menschen – das war der erste Masur.

Seiner Herkunft verdankt der Masur die Eigenschaften, welche ihn kennzeichnen, denn der Masur ist hässlich wie eine Eule, grob und unrein, wie ein Schwein; er verbindet die Trägheit des Ochsen mit der Gier und Gefrässigkeit des Wolfes, wie mit der Verwerflichkeit und Wildheit des Teufels. Der Masur ist die Schlechtigkeit in Gestalt.

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_182.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)