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Lithauische Märchen. II.
Von
Fr. RICHTER.


1. Das Mädchen und die Schlange.


Einst lebte eine reiche Witwe am Strande des Meeres. Die Witwe besass nur eine Tochter. Sie hatte deshalb das Kind einer Leibeigenen zu sich genommen und erzogen, damit das Mädchen alle ihre Bedürfnisse genau kennen lerne und sich später ganz ihrem Dienst widmen könne. Die Witwe ging mit dem Mädchen nicht gut um, aber dieses wuchs kräftig heran und ward von einer solchen Schönheit, dass es von allen Leuten bewundert wurde. Den Dienst verrichtete das Mädchen mit grosser Treue.

Eines Tages geschah es, dass die Witwe das Mädchen an den Strand schickte, damit es dort die Wäsche wasche. Das Mädchen lag der Arbeit fleissig ob. Plötzlich aber kam eine grosse Welle angerauscht und nahm das kostbarste Tuch der Witwe mit in das Meer. In seiner Not lief das Mädchen zur Witwe, sein Leid zu klagen, diese aber züchtete es heftig und drohte mit dem Tode, wenn das Mädchen jenes kostbare Tuch nicht wieder schaffe. Klagend ging das Mädchen an den Strand des Meeres und netzte den Sand der Düne mit seinen Thränen. Plötzlich kam eine Welle angerauscht und eine Stimme liess sich vernehmen, welche flüsternd sprach: „Liebes Mädchen, liebes Mädchen, willst du mich zum Manne nehmen, so will ich dir das Tuch wiedergeben.“ In ihrer Not versprach die Jungfrau alles. Kaum war das geschehen, so kam eine mächtige Welle daher, welche dicht vor dem Mädchen schäumend zusammenbrach. Als der weisse Schaum verrauscht war, lag das kostbare Tuch zu ihren Füssen. Die Jungfrau trocknete dasselbe in der Sonne, dann brachte sie es ihrer Herrin.

Als der Abend hereingebrochen war, entstieg dem Meere eine gewaltige Schlange. Die Schlange näherte sich dem Hause, in welchem die Jungfrau wohnte und rief vor ihrer Thür: „Liebes Mädchen, liebes Mädchen, öffne die Thür. Hast du vergessen, was du versprochen?“ Schnell öffnete die Jungfrau die Thür und die Schlange kam zu ihr in das Zimmer. „Liebes Mädchen, liebes Mädchen“, sprach die Schlange, „gieb mir zu essen, denn ich bin sehr hungrig.“ Schnell holte das Mädchen Milch und Brot herbei. Die Schlange liess es sich gut schmecken.

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_189.png&oldid=- (Version vom 21.7.2023)