Seite:Zeitschrift für Volkskunde I 210.png

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Neben diesen kleinen Veränderungen gehen auch die grossen Umgestaltungen in Inhalt, Bau und der Zusammensetzung der Gesänge vor sich. Diese, welche natürlich längere Zeiträume beanspruchen, können Anhaltspunkte für historische Bestimmungsversuche werden. Ein solcher ist auch mit diesen Zeilen beabsichtigt.

Wenn es wahr ist, was auf Grund des in einem vorhergehenden Kapitel Angeführten kaum einem Zweifel unterworfen sein kann, dass die Lieder singende Bevölkerung im nordwestlichen Winkel des Gouvernements Archangel erst ungefähr zur Zeit des nordischen Krieges in ihre jetzigen Wohnstätten eingewandert ist, so müssen wohl alle ausschliesslich hier vorgefundenen Formen nach Anfang des 18. Jahrhunderts aufgekommen sein. Dazu gehören nun alle Versuche, mehrere epische Gesänge zu einem einzigen, ganzen Epos zu verschmelzen. An erster Stelle, wenn auch nicht der grösste unter diesen, steht der Sampocyklus, von dessen Inhalt vorher die Rede gewesen ist. Hier vereinigte sich gleicherweise der Gesang von den Riesenarbeiten des Kalevalasohnes und von seiner Rache als Hirt mit der düsteren Geschichte von der Verführung der Schwester und dem darauf folgenden Selbstmorde. Hier vereinigten sich die meisten Gesänge, welche wir unter Lemminkäinens Namen kennen, in der Weise, dass er den Kaukomieli verdrängte, der zuerst der Held in der Fahrt nach Päivölä (Pohjola) war. Hier bekamen der Besuch bei Wipunen und der Ainogesang zum grossen Teile ihre jetzige Form und so weiter.

Da wir wissen, welche ausserordentliche Schwierigkeiten die politische Trennung und der durch unaufhörliche Plünderungszüge erzeugte Hass zwischen der beiderseitigen Bevölkerung der Verbreitung der Gesänge über die jetzige Grenze, nach Russisch-Karelien, in den Weg stellte, so ist man versucht, eine gleich grosse Schwierigkeit in Hinsicht auf die ältere Reichsgrenze anzunehmen, welche das jetzige finnische Karelien oder den damaligen Kreis von Keseholm von Savolaks und dem viborger Küstenlande trennte. Wenigstens kann wohl ein grosser Teil der Zaubergesänge, in welchen römisch-katholische Heilige vorkommen, sowie ein Teil vom Ainogesange, der einer schwedischen mittelalterlichen Ballade entnommen ist, kaum so weit nach Osten gekommen sein vor dem Frieden von Stollbova im Jahre 1617.

Aber mehrere kleine Umstände scheinen darauf hinzuweisen, dass dasselbe Verhältnis auch in weiterem Masse stattgefunden hat. In den Gouvernements Twer, Nowgorod und Jaroslaw gibt es nämlich eine zahlreiche karelische Bevölkerung, deren Vorfahren dorthin aus dem Kreise von Keseholm gewandert sind nach dem Kriege Karls X. gegen Russland, während welchem sie einen Aufruhr gegen die schwedische Regierung gemacht hatten. Von dieser Bevölkerung hat man nun, ausser ein paar Balladen und einigen wenigen Zaubergesängen, keine Lieder erhalten können, wogegen die nach Wermland schon um 1600 ausgewanderten Savolakser, obwohl recht gering an Zahl, eine Menge Gesänge, darunter mehrere epische Fragmente, bewahrt haben. Vergleicht man diese Thatsachen miteinander, so kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass die aus dem Kreise von Keseholm ausgewanderte karelische Bevölkerung sehr wenig poetische

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_210.png&oldid=- (Version vom 21.11.2023)