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Schätze mit sich zu führen gehabt habe. Dazu kommt, dass die Einwohner des Bezirks Salmis am Ladoga (innerhalb der Grenzen des Kreises Keseholm), wo die alte Bevölkerung geblieben ist und sich nicht viel mit den aus Westen eingewanderten lutherischen Finnen vermischt hat, gleichfalls beinahe gänzlich arm an Gesängen sind, ausser in den Dörfern, in welche sich eine aus Russisch-Karelien in Mitte des letzten Jahrhunderts eingewanderte sangeskundige Familie verzweigt hat. Etwas weiter nach Norden, in Ilomants, findet man bei den dortigen griechischen Kareliern viele Gesänge; aber die Einwohner dieses Kirchspiels bestehen auch zu zwei Drittel aus eingewanderten Lutheranern, von denen die Griechen wahrscheinlich die Gesänge gelernt haben. Dass die letzteren jetzt sangeskundiger sind, kommt ohne Zweifel nur daher, dass unter den Lutheranern die Zivilisation und tiefe religiöse Bewegungen die alten halbheidnischen Traditionen zerstört haben. Bemerkt zu werden verdient schliesslich der Umstand, dass Agricola, als er die für beide Stämme Finnlands eigentümlichen Gottheiten aufzählt, Wäinämöinen und Ilmarinen[WS 1], die beiden hervorragendsten Helden des finnischen Epos, als nur von den Tawastern oder Westfinnen verehrt bezeichnet.

In vielen finnischen epischen Liedern sehen wir ziemlich bedeutende, aus den russischen epischen Gesängen entliehene Stücke eingeflickt, welche unter dem Namen byilinyi bekannt sind. Diese Stoffe scheinen sich in Finnland nicht gerade weiter als bis in den früheren Kreis von Keseholm und nach Ingermanland verbreitet zu haben. Natürlich muss dieser Einfluss zu der Zeit stattgefunden haben, als die besagten Gegenden unter russischer Oberherrschaft standen. Da gab es damals zahlreiche russische Bojaren mit ihrem Gefolge von Kriegern, da gab es zu der Zeit in Ingermanland und ebenso im südlichsten Teile des Kreises von Keseholm eine ziemlich beträchtliche rein russische Bauernbevölkerung, welche die Gesänge mitteilen konnten. Die ersteren verschwanden inzwischen schon gleich nach 1617, die letztere zu einem grossen Teile gleichzeitig und zuletzt wenigstens nach dem Kriege Karls X. Nach 1660 war daher ein ferneres Zuströmen von russischen Sagen und Gesängen ziemlich unmöglich. Was wiederum den frühesten Zeitabschnitt dieses Einflusses betrifft, so werden in den russischen Gesängen mehrere Personen genannt, welche erwiesenermassen um das Jahr 1200 gelebt haben. Die Fehden, welche in ihnen geschildert werden, sind beinahe ohne Ausnahme gegen die Tataren gerichtet, und weisen daher frühestens auf das 13. Jahrhundert hin. Aber da die Russen meistens Sieger bleiben, müssen wir wohl den Zeitpunkt für die Ausbildung, wenigstens der jetzigen Form der Gesänge, noch in das folgende Jahrhundert verlegen. Nehmen wir nun an, dass einige Zeit vergehen musste, bis die Gesänge allgemeiner wurden und unter die Finnen eindringen konnten, so würden die Jahrhunderte 1400—1600 den wahrscheinlichsten Zeitpunkt für die Verbreitung der russischen epischen Stoffe unter den Kareliern bilden. Diese Stoffe finden sich fast alle in den Lemminkäinen- und Kullervo-Episoden vor, z. B. in vielen Details in der zweiten Pohjolafahrt des ersteren, speziell sein Auftreten als Friedensstörer im Hochzeitshause, die Warnungen der Mutter, der Zauberwettkampf mit dem Pohjolahern und anderes — ebenso, dass Tiera in den Streit auszieht, obwohl neu vermählt, und anderes

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ilmaninen
Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_211.png&oldid=- (Version vom 23.12.2023)