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Gemahlin zu verstossen. Er liess sie in den Wald zurückgeleiten. Obgleich die junge Königin, welche ihren Gemahl mehr als das Leben liebte, in Thränen fast zerfloss, so sprach sie doch kein Wort, sondern gedachte der Erlösung ihres Bruders.

Im Walde lebte die arme Verstossene wieder ein Jahr in der alten Weise. Die Früchte und Wurzeln des Waldes waren ihre Nahrung, der Quell löschte ihren Durst, auf den Bäumen schlief sie des Nachts. Endlich aber war die Zeit erfüllt, dass ihr Bruder erlöst war.

Eines Tages kam ein Rabe in den Wald geflogen und trat als blühender Jüngling vor seine Schwester, welche ihn erlöst hatte. Das Glück derselben war gross, aber schmerzlich gedachte sie ihres Gatten und ihrer Kinder, sagte aber ihrem Bruder von dem Vorgefallenen nichts. Die beiden Geschwister lebten fortan im Walde. Sie errichteten sich eine kleine Hütte aus Baumzweigen, der Bruder ging bei Tage auf Arbeit aus, des Abends aber kehrte er zu seiner Schwester zurück und brachte dieser alles, was er verdient hatte.

Eines Tages geschah es, dass die Schwester einen weiten Weg gemacht hatte und sich ermüdet im Walde niederliess, um auszuruhen. Zufällig hatte sie sich neben einen Ameisenhaufen gesetzt und dabei einige der Ameisen erdrückt. Voll Bedauern sah sie das Unheil, welches sie angerichtet hatte. Aber indem kamen Ameisen herbei, welche ein eigentümliches Gras trugen. Sie legten dasselbe auf die Toten; kaum hatte das Gras dieselben berührt, so wurden sie wieder lebendig. Da gedachte die junge Mutter ihrer toten Kinder, sammelte von dem Grase, soviel sie finden konnte, und ging damit in der nächsten Nacht in den Garten des Königs, ihres früheren Gemahls. Schnell grub sie einen der kleinen Särge auf und hielt der kleinen Leiche das Gras unter die Nase. Alsobald bekam der Knabe Leben. Darauf rief sie auch ihren zweiten und dritten Sohn in das Leben zurück und ging freudigen Herzens mit ihren Kindern zur Hütte im Walde. Hier erzählte sie ihrem erstaunten Bruder alles Vorgefallene; der aber hatte seine Schwester nur um so lieber und war glücklich, fortan für alle sorgen zu können.

Als die Hofdamen das Verderben der jungen Königin beschlossen hatten, war dies besonders in der Hoffnung geschehen, es werde, im Fall ihr Plan gelinge, bald eine von ihnen zur Königin erhoben werden. Aber der junge König gedachte trauernd seiner verstossenen Gemahlin und beschloss, nicht wieder zu heiraten.

Eines Tages befand er sich mit grossem Gefolge im Walde auf der Jagd. Er hatte sich von seinem Gefolge entfernt, nur sein treuester Diener war bei ihm. Plötzlich sah der König eine Hütte von Baumzweigen. Er betrat dieselbe und fand darin eine schöne junge Frau mit drei Söhnen. Die Frau hatte für ihn etwas sehr Bekanntes, allein er wusste nicht, wohin er sie bringen sollte. Der König bat um etwas Essen, und als ihm das gereicht war, legte er sich nach der Mahlzeit auf ein Mooslager, um auszuruhen, seinem Diener aber befahl er, draussen vor der Hütte zu wachen, damit ihm nichts geschehe. Bald war der König in Schlaf gesunken. Der Diener stellte sich so auf, dass er durch eine Öffnung in das Innere der Hütte blicken konnte, selbst aber nicht gesehen wurde. Da

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_238.png&oldid=- (Version vom 22.7.2023)