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doch wieder in die Nähe der Stelle gelangt, wo die Höhle sich nach aussen öffnete. Ermüdet legte er sich hier am Fusse einer grossen Fichte nieder; er schlief ein und hatte einen wunderbaren Traum. Ein schönes Weib, ohne Zweifel die Göttin der Fichte, erschien ihm und sprach: „Es thut mir leid, Dich in diesem Zustande zu sehen, allein Du selbst bist schuld daran, denn hättest Du nicht von den Früchten der Unterwelt gegessen, so wäre Dir nichts geschehen. Jetzt hast Du nur ein Mittel, Deine frühere Gestalt wieder zu erlangen: klettere auf den Gipfel dieser Fichte und stürze Dich mutig hinab!“ Beim Erwachen war der junge Mann, der noch immer die Gestalt einer Schlange hatte, halb voll Hoffnung, halb voll Furcht; er befolgte den Rat der Göttin. Als er sich nicht ohne Zagen und Zaudern vom höchsten Zweige des Baumes zur Erde gestürzt, verlor er die Besinnung. Wieder zu sich gelangt, sah er neben sich eine grosse geborstene Schlangenhaut; sie war beim Fall auseinander gegangen und hatte es ihm ermöglicht, herauszukommen. Er verrichtete ein Dankgebet an die Fichte, ging nun aus der Höhle und kam glücklich nach Hause. Hier jedoch hatte er schon in der nächsten Nacht einen zweiten Traum, in welchem ihm die Fichtengöttin seinen baldigen Tod verkündete. Eine Unterweltsgöttin, dieselbe, die ihn als Bärin in die Höhle gelockt, wolle ihn heiraten, und er sei ihr verfallen, da er jene Früchte gekostet. Auch erkrankte er sehr und vertauschte bald zum zweiten Male diese Welt mit der künftigen, ohne wieder zurückzukehren.

Zweite Unterweltsage. Ein Aino erzählte, dass zuzeiten seines Urgrossvaters ein Mann gelebt habe, welcher gern ergründen wollte, ob die Sagen von Pokna Muschir wahr seien. Eines Tages gelang es ihm auch, in eine tiefe Höhle in der Nähe von Sara zu dringen, die man aber jetzt vergebens suchen würde — sie ist seither längst von den Wogen des Meeres zerstört, in dessen Nähe sie unfern der Mündung des Flusses Sarabet gelegen war. Auch er sah, nachdem er zuerst überall nur Dunkelheit gefunden, schliesslich einen fernen Lichtschimmer, folgte ihm und sah Bäume, Dörfer, Flüsse und Seen mit grossen Fahrzeugen und viele Leute, sowohl Japaner als Aino. Ihn schien jedoch niemand zu sehen; nur die Hunde, welche alles, auch Geister, zu sehen vermögen, bellten ihn wütend an. Die Leute, welche daraus schlossen, dass ein unreiner oder böser Geist zu ihnen gekommen, fingen darauf an, unreine Speise auf ihn zu schleudern, gerade so, wie man sie solchen Geistern auf Erden zuzuwerfen pflegt, um sie zu besänftigen. Der Mann, sehr angeekelt, warf den schmutzigen Reis und die stinkenden Fischgräten weg — vergebens, beides kehrte immer wieder in seine Brusttasche zurück. Endlich, in ein hübsches Fischerhaus tretend, erkannte er seinen Vater und seine Mutter, obwohl sie sich nicht alt, wie sie zur Zeit ihres Todes[WS 1] gewesen, sondern in aller Jugendkraft ihm zeigten. Er rief seiner Mutter zu; aber zitternd lief sie von dannen. Dann erfasste er seines Vaters Hand und sagte: „Vater, erkennst Du mich denn nicht!“ Allein sein Vater fiel mit einem Angstschrei zu Boden; bald kamen Nachbarn zusammen und beteten vereint mit seinen Eltern unter Aufstellung von Weihestäben (Inao), der böse Geist möge doch von dannen gehen. Sehr betrübt ging er denn auch und suchte den Eingang zur Unterwelt wieder zu gewinnen, indem er fortwährend die ihm anhaftende unreine Speise abzuschütteln

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Totes
Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_253.png&oldid=- (Version vom 23.12.2023)