Seite:Zeitschrift für Volkskunde I 255.png

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

„Inseln des ewigen Lebens“, dem Pung-lai-schan der Chinesen oder dem Horaisan der Japaner, hat sich bei den Aino an und für sich gar keine Spur gefunden; nur das in einigen Sagen jener Völker mit den Inseln des ewigen Lebens verknüpfte, angeblich noch jenseit derselben liegende „Land der Frauen“, welche — ursprünglich gewiss nichts anderes als Wolkenjungfrauen — eine Art Amazonen vorstellen und die ihnen durch Sturm zugeführten Männer erst heiraten, dann töten und nach einigen Angaben verzehren, ist — sicher wohl erst in jüngster Zeit von Japan aus — zu den Aino gedrungen, deren Auffassung dieser Tradition nach Chamberlain in hohem Grade lasciv sein soll. Ebenso steht es fest, dass eine andere Sage, welche sich sehr eingehend mit dem Ursprunge der Aino befasst, ursprünglich diesem Volke gar nicht angehört, sondern ihm von den Japanern erst in ziemlich neuer Zeit, unbedingt nach Beginn des 17. Jahrhunderts, mitgeteilt ist. Diese Sage, welche ich in meiner Sammlung japanischer Märchen und Sagen unter dem Ttitel „Die Stammmutter der Aino“ in einer Form mitteilte, in welcher sie von vielen späteren tendenziösen Zügen befreit ist, hat daher ihren richtigen Platz unter den japanischen Sagen; sie hat aber auch augenscheinlich nicht in Japan ihre eigentliche Heimat, sondern gehört einer sehr verbreiteten Gruppe von Wandersagen an, der u. a. auch die Legenden von dem Mädchen ohne Hände und unser „Allerleirauh“ angehören. Die Aino, welche man sich in Japan rauh wie die Bären, Wölfe oder Hunde dachte, gaben ohne Zweifel Anlass zu der eigentümlichen Version der Japaner. Die erste Veranlassung der Flucht der von ihrem Vater durch unziemliches Ansinnen verscheuchten Tochter blieb; die nachherige Verheiratung fand mit einem Gott in Tiergestalt statt, und so erschien hier die Geburt tierischer Wesen — in den westlicheren Sagen durch Vertauschung, ursprünglich wohl durch Verzauberung erklärt — an sich schon nicht unmotiviert. Dass die Erzählung in der von mir gewählten, minder entstellten Form noch einen gewissen Reiz behielt, möchte immerhin zuzugestehen sein, und so wird es erklärlich, dass die Aino trotz der in manchen Lesarten enthaltenen cynischen Verhöhnung — die sie als Bastarde von Hund und Mensch hinstellt — sie doch nicht durchweg verschmähten. Eigentümlich ist die Versetzung in die letzten Jahrhunderte, welche die von Chamberlain (a. a. O. S. 14 .f) mitgeteilte wichtigste der von den Aino selbst herrührenden Varianten zeigt, welche also einen bündigen Beweis für das oben erwähnte junge Datum der Übertragung abgiebt. Einst trieb, so heisst es darin, von Yedo her eine grosse Kiste an die Gestade Yesos, welche beim Stranden aufsprang, und aus der ein sehr schönes Mädchen herauskam. Der Verlassenen erbarmte sich ein Gott, der teils in menschlicher Gestalt, teils als grosser weisser Hund — oder Wolf — sich ihr zeigte, sie pflegte und zur Gattin nahm. Ihrem ältesten Kinde, das einen Schwanz hatte, schnitten sie diesen ab, was auch durchaus keinen Schmerz veranlasste. Von diesem und den nachfolgenden Kindern jenes Paares stammen nun die Aino, und so kommt es, dass diese haarig sind wie die Hunde — oder Wölfe — aber keinen Schwanz haben. Die zweite Variante, welche Scheube (a. a. O. S. 23) gibt, ergänzt die eben gegebene dahin, dass die Dame eine Prinzessin, „die Tochter eines Mikado“, war, welcher sie wegen Ungehorsams in den Holzkasten hatte stecken und

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_255.png&oldid=- (Version vom 14.12.2023)