Seite:Zeitschrift für Volkskunde I 260.png

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Berchta-Sagen in Tirol.
Von
Ignaz Zingerle.

Wie die Pflanzen in unsern Bergen, haben auch Mythen und Sagen ihre Standorte. Wie eine Pflanze nur in dieser oder jener Gegend vorkommt, so auch eine Sage. Bei unserer gemischten Bevölkerung seit der Völkerwanderung – Goten, Langobarden, Alemannen, Baijuvaren, Franken zogen ja durch unser Gebirge, stritten um dasselbe und liessen sich da und dort sesshaft nieder – haben sich bis auf den heutigen Tag sehr verschiedene Dialekte erhalten. Wie verschieden ist die Sprache der nahe wohnenden Ultner, Passeirer und Sarner. Bei dem ersten Begegnen verstehen sich diese Leute nicht wechselseitig. Auch die Sage ist wohl den verschiedenen alten Ansiedlern entsprechend fortgepflanzt, wie die Gebräuche. – Ist es blinder Zufall, dass man am Inn, wo Alemannen Einfluss hatten, nach dem „St. Galli Ziel“ rechnet, an der Etsch, wo die Franken festen Fuss einst gefasst hatten, nach dem fränkischen Patron St. Martin? War es Willkür, dass nur alte Kirchen hier dem hl. Zeno, dort dem hl. Oswald, anderswo der hl. Gertraud geweiht sind? – Ich glaube nicht, es waren Nationalheilige, Schutzpatrone der Ansiedler. Es wäre nach meiner Ansicht wünschenswert, die alten, oft zerfallenen Heiligtümer näher zu erforschen und deren Patrone, die oft sogar heute verschollen, genau zu verzeichnen. Es könnte mancher Lichtstrahl auf die frühere Geschichte des Landes und dessen Besiedelung fallen. In Plarsch bei Meran finden wir eine alte St. Ulrichskirche. – Warum St. Ulrich? Weil es mit Kempten-Augsburg in Beziehung stand. In der „Totengruft“ (Kirchhofskapelle) zu Partschins fand ich ein Bild eines mir unbekannten Heiligen. Da ward mir gesagt, es sei der heilige Razzo. Wie kommt der sonst in Tirol unbekannte Razzo, der bayrische Heilige, hierher? Nun, in dieser Gemeinde hatte bis zum Jahre 1380 das Bistum Regensburg grosse Besitzungen, und so ward dieser Selige auch ins Dorf an der Etsch eingeführt. Auf dem Rittner Gebirge kommt, das einzige dieses Namens, ein Verena-Kirchlein vor, man möchte es seit neuerer Zeit mit Veronika in Verbindung bringen. Allein das Volk hat ein gutes und „anhängliches“ Gedächtnis und nennt es durchaus „St. Verena“. Sie ist eine Gauheilige der Alemannen und ist durch diese ins nahe Gebirge gekommen. Die alten Gertraud-Kirchen weisen auf fränkische Ansiedelungen.

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_260.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)