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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang
Frau Adler sen., Eberth, Richter: Sagen aus der Provinz Sachsen V

Sagen aus der Provinz Sachsen.
Mitgeteilt von Verschiedenen.
1. Die Hexe unter dem Birnbaum.

Was die Hexen alles können, das glaubt mancher Mensch gar nicht, und man würde es selbst nicht glauben, wenn man es bloss erzählen hörte, und nicht selbst erlebt hätte. So erzählte ein Mann, der selbst dabei gewesen war, aus seiner Jugendzeit folgende Geschichte.

In einem Dorfe – nicht weit von Magdeburg – habe eine alte Frau für sich von dem Ausgedinge gelebt. Dieselbe habe in dem Rufe gestanden, dass sie eine Hexe sei. Sonst sei aber die Frau ganz ordentlich gewesen und habe sogar auf dem Gehöft ihrer Tochter jeden Abend beim Melken geholfen. In dem Garten der alten Frau stand ein Birnbaum, dessen Birnen ganz besonders schön waren. Einige von den jungen Burschen des Dorfes hätten sich diese Birnen gar zu gern geholt, als dieselben reif waren. Damit sie nun nicht bei dem Stehlen der Birnen erwischt werden könnten, fragten sie das Mädchen, welches auf dem Gehöft diente, wo die alte Frau bei dem Melken zu helfen pflegte, ob denn dieselbe auch jeden Tag komme und um welche Stunde gegen Abend man zu melken gewohnt sei. Die Magd gab auch alles genau auf Stunde und Minute an und versicherte noch einmal, dass die alte Frau jeden Tag zur Aushilfe käme.

Am nächsten Tage wollten die jungen Burschen ihr Vorhaben ausführen und schlichen um die bestimmte Zeit in den Garten. Aber als sie an den Birnbaum kamen, da lag die alte Frau unter demselben, und zwar mit dem Gesicht nach unten. Da bekamen sie einen furchtbaren Schreck, kehrten um und liefen eilig davon. Den folgenden Tag schalten sie die Magd aus, dass dieselbe sie falsch berichtet hätte; die alte Frau käme gar nicht jeden Tag zum Melken, sie hätten sie um die angegebene Zeit unter dem Baume liegen gesehen. Aber die Magd antwortete ihnen: „Wat ick Juch esägt häbbe, is alles so. Die olle Frau is gistern ok hier ewest und hätt uns ehulpen. Ji kinnen Juch denken, wat Ji willen, abber ick sägge Juch, Ji warn woll keen Glick hebben, wenn Ji wat stälen willen, wu de Frau ne Hexe is. Harren Ji die Frau umekehrt, di Ji under den Bärnboom esiehen häbben, denn warren Ji wol wätten, wer dâ elähen hätt.“

Fortan wagte sich niemand mehr in den Garten der alten Frau hinein.

Frau Adler senior.     


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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_310.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)