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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang
Frau Adler sen., Eberth, Richter: Sagen aus der Provinz Sachsen V

5. Die Totenbeschwörung.

Es gibt ein Buch, das nennt man den Charakter, und wer denselben hat, der kann mehr denn andere Menschen. So erzählte ein Bauer in einem Dorfe bei Magdeburg, dass er von seinem Vater oftmals und stets mit denselben Worten folgendes gehört habe.

Als er noch als junger Mann in einem Städtchen, nicht weit von Magdeburg, im Dienst gestanden habe, hätte er mit einem jungen Manne in seinem Alter Umgang gehabt. Er habe bald gemerkt, dass derselbe mehr könne als jeder andere. So wären einmal ihrer mehrerer von den jungen Leuten zusammen gewesen, an einem Sonntag Abend. Da sei das Gespräch darauf gekommen, ob man auch die Toten herbeirufen könne. Sein Bekannter habe gesagt, das sei möglich und er wolle es ihnen zeigen. Mittlerweile sei es spät geworden, aber der Betreffende habe sie immer noch hingehalten, bis es elf geschlagen hätte. Dann habe er einen Jeden von ihnen gefragt, welchen Toten er sehen wolle. Da hätte denn der eine diesen, der andere jenen von seinen Bekannten genannt, die gestorben waren. Darauf hätten sich alle im Kreise um seinen Bekannten herumsetzen müssen. Dann habe er ein Buch genommen und darin gelesen. Das Buch aber sei ein Charakter gewesen. Er habe gar nicht lange in dem Buche gelesen, da habe sich die Thüre aufgethan und dann sei ein Toter nach dem andern hereingetreten, deutlich erkennbar, und zwar in der Reihenfolge, wie ihre Namen früher angegeben seien. Die Toten seien um sie im Kreise herumgegangen und zwar so dicht an ihnen vorbei, dass dieselben sie fast gestreift hätten. Da hätten ihnen vor Angst die Haare zu Berge gestanden. Nun aber seien alle Toten im Zimmer gewesen, die sie zu sehen gewünscht hätten. Als kein Toter mehr gekommen wäre, habe der, welcher sie gerufen hatte, den Charakter rückwärts gelesen. Darauf hätten sich die Toten langsam wieder aus dem Zimmer entfernt. Sie hätten noch ein Weilchen wie erstarrt auf ihren Plätzen stillgesessen, dann aber gemacht, dass sie zur Thür hinausgekommen wären. Fortan hätten sie nicht mehr begehrt, von solchen Dingen etwas zu wissen.

Richter.     
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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_313.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)