Seite:Zerstreute Blaetter Band I 180.jpg

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bis in den Himmel erhoben! Wie oft geschiehets, daß eine einfache Melodie zarte, wehmüthige Thränen rinnen macht, die Menschen plötzlich in alte Empfindungen und Gegenden der Jugend, oder in unbekannte Auen eines seligen Paradieses versetzt, und völlig den Zaubertönen der ersten Welt, nur auf feinere Art, gleich kommt. Gewiß, meine Schwestern, ein Liebling meiner Kunst kann Wunderdinge auf einen Menschen wirken, so bald er nur die Töne studirt, bey denen dieser am meisten gerührt wird, die Gänge der Melodie, nämlich, die sein ganzes Empfindungssystem bewegen. Hielte er sich sodann an solche, und suchte ihre größte Wirkung; er hätte das Herz des Menschen in seiner Gewalt, wenn dieser auch sonst von Stahl und Eisen wäre.

     Und käme man nicht wieder zu dieser alten und großen Wirkung, meine Schwester, wenn deine Kunst sich mit der meinigen näher zusammen fände? sprach die Poesie. Ich zeichne dir Empfindungen vor; du darfst nur folgen und dich an diese halten. –

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_180.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)