Seite:Zerstreute Blaetter Band I 184.jpg

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haben darf, jetzt aber im Licht seiner Muse gewahr wird, und wie durch reflektirte Stralen dichtet. Glaubt mir, der Trunkene singt von der Trunkenheit nicht am schönsten; der Dichter, der alle Leidenschaften schildert, der sie oft auf einmal im stärksten Contrast schildert, kann sie ja nicht alle als persönliches Eigenthum besitzen; gnug, wenn er sie als ein ruhiger Spiegel treu aufnimmt und wieder abglänzet. So ists auch mit der Malerey und Tonkunst. Die größten Künstler jeder Art waren immer die Leidenschaftlosesten, heitersten Charactere; sie waren Jünglinge wie ich, und lebten in meinem Sonnenglanze. Aber machet, daß des Streits ein Ende werde. –

     Du, Malerey machst mit deiner Kunst die helleste, schönste, klärste, daurendste Vorstellung; du sprichst durch deine Gestalten zur Phantasie und durch sie zum Verstande und Herzen; du verfeinst den Blick, öfnest die Thore der Schöpfung und machst deine Lieblinge ruhig und heiter;

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_184.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)