Seite:Zerstreute Blaetter Band I 216.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Der sterbende Schwan.

––––

"Muß ich allein denn stumm und Gesanglos seyn? sprach seufzend der stille Schwan zu sich und badete sich im Glanz der schönsten Abendröthe; beinah ich allein im ganzen Reich der gefiederten Schaaren. Zwar der schnatternden Gans und der gluckenden Henne und dem krächzenden Pfau beneide ich ihre Stimmen nicht; aber dir o sanfte Philomele beneide ich sie, wenn ich wie festgehalten durch dieselbe langsamer meine Wellen ziehe und mich im Abglanz des Himmels trunken verweile. Wie wollte ich dich singen, goldne Abendsonne! dein schönes Licht und meine Seligkeit singen, mich in den Spiegel deines Rosenantlitzes niedertauchen und sterben."

     Stillentzücket, tauchte der Schwan nieder und kaum hob er sich aus den Wellen wieder empor; als eine leuchtende Gestalt, die am Ufer stand, ihn freundlich zu sich lockte. Es war der Gott der Abend- und Morgensonne, der schöne

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_216.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)