Seite:Zerstreute Blaetter Band I 352.jpg

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suchts also das Geheimniß selbst im Herzen des Liebenden zu bewahren, sobald es desselben gewiß ist; und nichts macht sich gewisser als dieses. Das Geheimniß wird gleichsam entweiht, wenn es nur die Lippen berührt: es erstirbt auf gewisse Weise schon im ersten Kusse, im ersten Seufzer. Aber da wir einmal Körper sind, so verliehrt Psyche freylich, wie die alte Fabel lautet, ihre himmlische Fittige, sobald sie zur Materie herabsinkt. Ist es Wunder, daß sie sich so lange, und mit so vieler Mühe noch täuschen will, daß sie nicht den Körper, sondern nur das, was ihrer Natur ist, die Seele des Geliebten liebe? gleich als ob sie sich ihrer Erniedrigung schämte, und die kurze Dauer des Genusses, den sie sucht, prophezeihte. Wie verhüllet sie sich also diesen! sie suchet auch im Kuß nur Vereinigung der Seele, wie es das untenangezogene unübersetzbare Gedicht [1] gleichsam ganz liebeathmend



  1. Dum semihulco suavio
    meam puellam suavior etc. Aul. Gell. 1. XIX c. IX.
    Siehe auch das vortrefliche Lydia puella candida, das dem Cornelius Gallus zugeschrieben wird, insonderheit in der letzten Strophe.


Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_352.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)