Seite:Zerstreute Blaetter Band I 364.jpg

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erstattete und umhüllete Gott mit Reizen. Wo er des Bedürfnisses wegen von den Regeln der Wohlgestalt abgehen mußte: da schlang er den Gürtel der Liebe um sie, begabt mit dem Verlangen, das, wie jene Göttin saget, alle Stärke überwindet. Auch in der Freundschaft ist ein Theil immer der thätige, der andre mehr beyhelfend und leidend: jener männlich, dieser weiblich; oft umgekehrt nach Geschlechtern. Einklang ist in dieser Ehe der Seelen weder angenehm noch nützlich, noch möglich. Consone Töne müssen es seyn, die die Melodie des Lebens und des Genusses geben, nicht unisone; sonst verliert sich die Freundschaft bald in bloße Gesellschaft.

     Auch das wird hieraus offenbar, daß die Anziehungskraft einer einzelnen menschlichen Seele sich ins Unendliche weder ausbreiten könne, noch ausbreiten dürfe. Die Natur hat schmale Grenzen um jedes Einzelne gezogen; und es ist der gefährlichste Traum, sich unumschränkt zu denken, wenn man eingeschränkt ist, sich Despot des Weltalls zu glauben, wenn man

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_364.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)