Seite:Zerstreute Blaetter Band I 365.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

von nichts als einzelnen Almosen lebet. Die ganze Schöpfung mit Liebe zu umfassen, klingt schön; aber vom Einzelnen, dem Nächsten, fängt man an: und wer dieß nicht tief, innig, ganz liebet: wie sollte er, was entfernt ist, was aus einem fremden Gestirn nur schwache Stralen auf ihn herabwirft, lieben können? – so, daß es auch nur den Namen der Liebe verdiente. Die allgemeinsten Kosmopoliten sind meistens die dürftigsten Bettler: sie, die das ganze Weltall mit Liebe umfassen, lieben meistens nichts, als ihr enges Selbst.

     Ich komme auf den Umstand, da Hr. H. die griechischen Staaten mit den unsern vergleicht [1] und der Christlichen Religion den Vorwurf zu machen scheint: daß sie durch gar zu viele Sorge fürs ewige Wohl des Individuum seine Anhänglichkeit ans flüchtige Wohl eines zeitlichen Staates mindere. Der Vorwurf schiene nur dann gegründet, wenn die Sorge für die Ewigkeit der



  1. S. 96. 97.


Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_365.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)