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Wir bleiben nicht länger bei diesem Erstling seiner Muse stehen. Huysmans hat uns noch andere Proben seines Talentes gegeben. Das zeigt schon sein zweites Buch Les sœurs Vatard.

Ein kurzes Wort über den Inhalt vorweg. Huysmans erzählt die Geschichte der Schwestern Vatard, die in einer Pariser Fabrik, in den ateliers de satinage et de brochure de la maison Débonnaire & Сie beschäftigt sind. Céline und Désirée sind die Töchter eines Arbeiters, der in seinen alten Tagen von einem sehr ärmlichen Jahrgehalt lebt. Die älteste ist ein verlorenes Geschöpf, die jüngste führt sich tadellos auf. Ein junger ouvrier macht ihr den Hof, aber der alte Vatard will seine Tochter nicht hergeben, er hat sie im Haushalt nötig. Sie spart ihm die Kosten einer Putzfrau. Désirée kann ihren Geliebten nur sehr selten sprechen. Die Liebe wird schwächer und schwächer. Désirée wird krank. Schliesslich heiratet sie einen braven Arbeiter, der zu seinem Schwiegervater ins Haus zieht. Der Hauptschauplatz der Erzählung ist die Fabrik von Débonnaire & Cie. Ein wüstes Durcheinander von hässlichen Menschen und hässlichen Dingen ist da zusammengebracht. Die ouvrières, arme Frauen in schmutzigen Lumpen, leben in einer ungesunden Atmosphäre, die der Geruch von nassem Papier, Stärke und wer weiss was noch verdirbt.

Die meisten Pariser Blätter fielen den Roman mit grosser Erbitterung an. Nur zuweilen sprach ein Freund oder Geistesverwandter zu seinen Gunsten. Huysmans’ Meister, Zola, beurteilte die Dichtung im Voltaire sehr günstig. Er preist die Wahrheit in der Zeichnung der armseligen Arbeitsleute und deren dürftigen Wohnungen im fünften oder sechsten Stock. Dass der Roman keine Verwicklung hat, nicht einmal fesselnd erzählt ist, wird charakteristisch genannt. Tout l’art moderne est là.[1] Die gewissenhaft gezeichnete alte Vatard und seine beiden Töchter gereichen dem Verfasser zur Ehre. Schlechte und brave Arbeiterkinder wie Céline und Désirée kommen im Pariser Leben täglich vor. Die lang genährte und endlich getäuschte Hoffnung Désirée’s, ihre melancholischen Spaziergänge und Unterhaltungen mit dem braven Arbeitsmann, verdienen unbedingt das Zola’sche Lob. Eine solche Liebe auf der Strasse rührt um so mehr, je mehr sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt, je öfter sie auf dem Boulevard oder Faubourg beobachtet werden kann.

Huysmans konnte sich kein liebenswürdigeres Urteil wünschen als das Zola’s. Ich selbst stelle mich auf einen vollständig neutralen Standpunkt, ohne jedes Für noch Wider inbezug auf den ästhetischen Grundsatz der beiden Schriftsteller; mein Urteil über Les sœurs Vatard lautet abweichend von dem Zola’s. Als Studie, als Beitrag zur Kenntnis der Arbeiterfamilien ist das Buch vortrefflich. Das von Zola selbst in seinem L’Assommoir gegebene Beispiel hat den jungen Romanschriftsteller begeistert. Aber er hat übersehen, dass ein Sujet, wie das im Assommoir gewählte, einen erschütternden Eindruck machen muss, und dadurch manchen Einwand entkräftet. Trunksucht, die Totsünde des armen Arbeiters — auch anderer Menschen — zum Thema für einen Roman aus dem Volksleben gewählt, das ist ein Gegenstand, der Tausende von Lesern, litterarisch gebildete und unlitterarische fesselt. Dazu kam noch, dass Zola mit einer aussergewöhnlichen plastischen Kraft jede einzelne Gestalt seines Buches sich vor der Phantasie seiner Leser

  1. Émile Zola, Le Roman expérimental (Paris 1886 bei Charpentier), S. 242.
Empfohlene Zitierweise:
diverse: Zeitschrift für französische Sprache und Litteratur. Oppeln und Leipzig: , 1889, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:ZfSL_-_48.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)