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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

Und er griff zum Brod, und sahe,
     wie aus einem Drusenloch 12)

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rasch ein aschengraues Mäuschen

     lüstern nach dem Brode kroch.

Und er scheucht es nicht von dannen,
     lächelt mild: „Du armes Thier,
bist so gut, wie ich, ein Häuer,

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     bleib’ nur da, und iß mit mir!

Freilich hab’ ich wenig, wenig,
     und mir dräut der Hungertod;
aber Gott kann mir noch helfen:
     da, nimm dieses Rindchen Brod!“

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Schnalzend wirft er’s hin. Das Mäuschen

     kriecht heißhungrig dreist heran,
und zerknappert flink das Rindchen,
     und verzehrt’s mit scharfem Zahn.
Lächelnd sieht ihm zu der Häuer;

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     ist doch für den armen Mann

wohlzuthun die größte Freude,
     da er’s so nur selten kann.

Doch kaum hat das graue Mäuschen
     das geschenkte Brod verzehrt,

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als es, lüstern um sich schnobernd,

     nach dem Licht daneben fährt.
Aber Teller sieht’s, und zürnet:
     „Böses Thier, pfui, schäme dich,
hab’ dir deinen Theil gegeben,

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     und zum Dank bestiehlst du mich?“



[Ξ] 12)

Drusen sind lochförmige Spalten im Gestein.

Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_149.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)