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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

Stundenlang oft saßen Beide
     in der Laube frischem Grün;
Boleslav ließ keine Lehre
     spurlos seinem Ohr entflieh’n.

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Alles schien nach seinem Meinen

ihm genehm, und hatt’ er keinen
     Zweifel jemals sich erlaubt;
aber bei der großen Lehre,
daß sich rächen Sünde wäre,

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     schüttelt’ er sein lockigt Haupt.


„„Aber seht, ehrwürd’ger Vater,
     – unterbrach er sanft den Greis –
warum, wenn ich Böses sehe,
     wird’s im Herzen mir so heiß?

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Warum soll ich mit dem Schlechten,

wenn ich besser bin, nicht rechten?
     Habt ihr mir doch selbst gesagt:
Wehe, wer durch Uebelthaten
seinem Nächsten Leid und Schaden

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     boshaft zuzufügen wagt!““


„Weh dem Bösen! – rief der Klausner –
     weh ihm, wehe! Aber wißt,
daß, das Rächeramt zu üben,
     ein Alleinrecht Gottes ist!

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Kann der Mensch ja nie auf Erden

allen Makels ledig werden,
     daß er könnte Richter seyn;
darum soll er ohne Klagen
seines Nächsten Fehler tragen,

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     und den Irrenden verzeih’n.“


Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_192.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)