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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

Dippold wäscht ihm seine Wunden,
     legt ihm Spinnewebe drauf,
und der Kranke regt sich wieder,
     schlägt die stieren Augen auf.

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Boleslav, der nie an Dieben

solche Großmuth sahe üben,
     schüttelte sein lockigt Haupt,
und begann: „„Könnt ihr verwetten,
daß der, den wir heute retten,

220
     nicht schon morgen wieder raubt?““


Strafend da mit finsterm Auge
     sprach der Greis: „Das weiß ich nicht!
Aber wär’s auch; ihm zu helfen,
     das ist heute meine Pflicht!

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Ein Gebot ist uns geschrieben,

Großmuth auch am Feind zu üben,
     wie sie Christus einst geübt!
Alle Menschen sind ja Brüder.
Darum, so frag’ niemals wieder,

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     wenn ihr irgend mich noch liebt!“


Durch das ernste Wort erschüttert,
     schweigt der Jüngling still dazu,
und begiebt sich, da der Klausner
     sein nicht mehr bedarf, zur Ruh.

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Aber Dippold wacht mit Sorgen

bei dem Kranken bis zum Morgen,
     hülfreich stets um ihn bemüht,
so daß früh vom Schlaf ermuntert
Boleslav ihn hochverwundert

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     noch bei selbem sitzen sieht.


Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_196.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)