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ein Erklärer sein, aber er wird die Kunst nicht als rätselaufgebende Sphinx behandeln, deren seichtes Geheimnis von einem erraten und enthüllt werden kann, der schlimme Füße hat und seinen Namen nicht kennt. Er wird viel eher die Kunst als eine Göttin betrachten, deren Geheimnis zu vertiefen sein Amt ist, und ihre Hoheit in den Augen der Menschen wunderbarer zu machen, sein Vorrecht.

Und hier, lieber Ernst, geschieht etwas Seltsames. Der Kritiker ist in der Tat ein Erklärer, aber er ist es nicht in dem Sinne, wie wenn einer einfach in anderer Form eine Mitteilung macht, die ihm in den Mund gelegt wurde. Denn gerade wie einzig und allein durch Berührung mit der Kunst fremder Völker die Kunst eines Landes das individuelle und besondere Leben erlangt, das wir Nationalität nennen, so kann in seltsamer Umkehrung der Kritiker nur dadurch, daß er seine eigene Persönlichkeit vertieft, die Persönlichkeit und das Werk anderer erklären, und je stärker dieses Persönliche in die Interpretation eingeht, um so mehr Wirklichkeit erlangt sie, um so befriedigender, um so überzeugender und um so wahrer wird sie.

Ernst: Ich hätte gedacht, das Persönliche sei eher ein störendes Element.

Gilbert: Nein, es ist ein Element der Offenbarung. Wenn du andere verstehen willst, mußt du deinen eigenen Individualismus verstärken.

Ernst: Was ergibt sich denn daraus?

Gilbert: Das will ich dir sagen, und vielleicht geschieht es am besten an einem bestimmten Beispiel. Mir scheint, daß allerdings die literarische Kritik natürlich an erster Stelle steht, weil sie eine größere Ausdehnung, einen weiteren Gesichtskreis und ein edleres Material hat, daß