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aber jede einzelne Kunst sozusagen einen Kritiker hat, der für sie bestimmt ist. Der Schauspieler ist ein Kritiker des Dramas. Er zeigt das Werk des Dichters unter neuen Bedingungen und in einer Methode, die ihm besonders eigen ist. Er nimmt das geschriebene Wort, und Aktion, Gebärdenspiel und Stimme werden die Mittel der Offenbarung. Der Sänger oder der Spieler auf der Laute oder der Bratsche ist der Kritiker des Musikers. Der Radierer eines Gemäldes beraubt das Bild seiner schönen Farben, aber er zeigt uns dadurch, daß er ein neues Material anwendet, seine wahre Farbenqualität, seine Töne und Valeurs und die Beziehungen seiner Massen und ist so auf seine Art ein Kritiker des Bildes, denn Kritiker ist der, der uns ein Kunstwerk in einer Form darstellt, die von der des Werkes selbst verschieden ist, und die Anwendung eines neuen Materials ist ebensowohl ein kritisches wie ein schöpferisches Element. Auch die Skulptur hat ihren Kritiker; das mag entweder ein Gemmenschneider sein, wie in griechischen Zeiten, oder ein Maler wie Mantegna, der auf der Leinwand die Schönheit der klassischen Linie und die symphonische Würde eines feierlichen Basreliefs wiederzugeben suchte. Und im Fall all dieser schöpferischen Kunstkritiker ist es einleuchtend, daß die Persönlichkeit für jede wirkliche Interpretation absolut wesentlich ist. Wenn Rubinstein uns die Appassionata von Beethoven spielt, gibt er uns nicht bloß Beethoven, sondern auch sich selbst, und dadurch gibt er uns Beethoven völlig – Beethoven reproduziert durch eine reiche künstlerische Natur, und uns lebendig und herrlich gemacht durch eine neue, intensive Persönlichkeit. Wenn ein großer Schauspieler Shakespeare spielt, haben wir dasselbe Erlebnis. Seine eigene Individualität wird ein wesentlicher Bestandteil