Seite:Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben.pdf/111

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seiner Interpretation. Die Leute sagen manchmal, der oder jener Schauspieler gebe uns seinen eigenen Hamlet und nicht den Shakespeares; und dieser Trugschluß – denn es ist ein Trugschluß – wird leider von dem entzückenden und liebenswürdigen Schriftsteller wiederholt, der jüngst die Unruhe der Literatur mit dem Frieden des Hauses der Gemeinen vertauscht hat; ich meine den Verfasser von „Obiter Dicta“. Tatsächlich gibt es so etwas wie Shakespeares Hamlet nicht. Wenn Hamlet etwas von der Bestimmtheit eines Kunstwerks hat, so hat er auch all die Dunkelheit, die zum Leben gehört. Es gibt so viele Hamlets als es Melancholien gibt.

Ernst: So viele Hamlets als es Melancholien gibt?

Gilbert: Ja; und wie die Kunst der Persönlichkeit entspringt, so kann sie nur der Persönlichkeit offenbart werden; und aus dem Zusammentreffen dieser zwei entspringt die rechte aufschließende Kritik.

Ernst: Der Kritiker würde demnach, sofern er Erschließer oder Erklärer ist, nicht weniger geben als erhalten und ebensoviel hinzutun als er empfängt?

Gilbert: Er wird uns immer das Kunstwerk irgendwie in einer neuen Beziehung zu unserer Zeit zeigen. Er wird es uns nie vergessen lassen, daß große Kunstwerke lebendige Wesen sind – in Wahrheit die einzigen lebenden Wesen sind, die es gibt. So sehr fürwahr wird er das fühlen, daß ich sicher bin: mit dem Fortschritt der Zivilisation, wenn wir höher organisiert sind, werden die erlesenen Geister jeder Zeit, die kritischen Geister, die Kulturrepräsentanten, weniger und weniger am tatsächlichen Leben teilnehmen und werden darauf aus sein, ihre Impressionen fast ganz und gar da zu machen, wo die Kunst geweilt hat. Denn das Leben ermangelt schrecklich der Form. Seine Katastrophen geschehen