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erlangt, von der er sich nie, selbst in seinen gedankenvollsten Augenblicken, völlig frei machen kann.

Der Verlust, den unsere Literatur im allgemeinen durch dieses falsche Ideal unserer Zeit erleidet, kann kaum überschätzt werden. Die Menschen reden so obenhin von einem „geborenen Lügner“, gerade wie sie von einem „geborenen Dichter“ sprechen. Aber in beiden Fällen haben sie unrecht. Lügen und Dichten sind Künste – Künste, die, wie Plato sagt, nicht ohne Beziehungen zueinander sind – und erfordern den eindringlichsten Fleiß, die uneigennützigste Hingebung. In der Tat haben sie ihre Technik, gerade wie die materielleren Künste der Malerei und Skulptur, ihre subtilen Geheimnisse der Form und Farbengebung, ihre überlegten künstlerischen Methoden. Wie man den Dichter an der Schönheit seines Musikalischen erkennt, so wird der Lügner nach dem Reichtum seiner rhythmischen Abstufungen beurteilt, und in beiden Fällen kann keinerlei Inspiration des Augenblicks eine zufriedenstellende Leistung schaffen. Hier wie überall muß die Übung der Vollendung vorhergehen. Aber in unsern Tagen ist zwar die Gewohnheit des Dichtens nur allzu gemein geworden und sollte, wenn möglich, zurückgedrängt werden, jedoch die Gewohnheit des Lügens ist fast um alles Ansehen gekommen. Mancher Jüngling tritt mit einer natürlichen Begabung für Übertreibung ins Leben, die nur der Pflege und Ausbildung in einer geistig verwandten und mitfühlenden Sphäre bedürfte, oder des Lernens an den besten Vorbildern, um sich zu etwas wirklich Großem und Wunderbarem auszuwachsen. Aber in der Regel bringt er es zu nichts. Er nimmt entweder die liederliche Gewohnheit der Gewissenhaftigkeit an –“

Cyrill: Lieber Freund!