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wollen, oder an die hohlen Dogmen irgend eines verschwommenen Systems abstrakter Moral. Sie haben ihre Friedensgesellschaften, die den Sentimentalisten so am Herzen liegen, und ihre Vorschläge für unbewaffnete internationale Schiedsgerichte, die bei denen so beliebt sind, die nichts von der Geschichte wissen. Aber bloße Gefühlsduselei wird es zu nichts bringen. Sie ist zu schwankend und zu eng den Leidenschaften verschwistert; und eine Behörde von Schiedsrichtern, die um des allgemeinen Wohles der Menschheit willen der Macht beraubt sein sollen, ihre Entscheidungen zur Durchführung zu bringen, wird keinen großen Erfolg haben. Nur ein Ding ist schlimmer als Ungerechtigkeit: die Gerechtigkeit, die nicht ihr Schwert in der Hand hat. Wenn Recht nicht Macht ist, ist es Verderben.

Nein: Gefühle werden uns nicht zu Weltbürgern machen, ebenso wenig wie es die Gewinngier vermocht hat. Nur durch die Pflege und Ausbildung der Gewohnheit geistiger Kritik werden wir imstande sein, uns über nationale Vorurteile zu erheben. Goethe – du wirst, was ich sage, nicht mißverstehen – war ein echter Deutscher. Er liebte sein Land – keiner mehr als er. Er liebte die Menschen seines Landes; und er war ihr Führer. Und doch, als Napoleon mit eisernen Hufen Weingärten und Kornfelder verwüstete, blieb sein Mund stumm. „Wie hätte ich Lieder des Hasses schreiben können ohne Haß,“ sagte er zu Eckermann, und: „Wie hätte auch ich, dem nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung verdankte.“ Dieser Ton, den in der modernen Welt Goethe zuerst angeschlagen hat, wird, glaube ich, der Ausgangspunkt