Seite:Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben.pdf/160

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

einem Mann der Wissenschaft vorbehalten, uns das erhabene Beispiel „sanfter Vernunft und Friedfertigkeit“ zu geben, von der Arnold so weise und ach! so vergebens gesprochen hatte. Der Verfasser der „Entstehung der Arten“ war jedenfalls in diesem philosophischen Gemütszustand. Wenn man die gewöhnlichen Kanzeln und Tribünen in unserm Land betrachtet, überkommt einen das Gefühl der Verachtung eines Julian oder der Gleichgültigkeit eines Montaigne. Uns beherrscht der Fanatiker, dessen schlimmste Tugend die Ehrlichkeit ist. Was irgend dem freien Spiel des Geistes ähnlich sieht, ist bei uns im praktischen Leben unbekannt. Die Menschen schreien gegen die Sünder, aber nicht die Sündigen, sondern die Dummen sind unsere Schande. Es gibt keine Sünde außer der Dummheit.

Ernst: Ach! Was für ein Ketzer du doch bist!

Gilbert: Der künstlerische Kritiker ist wie der Mystiker immer ein Ketzer. Gut sein, nach dem gewöhnlichen Maßstab des Gutseins, ist selbstverständlich ganz leicht. Es erfordert nur eine gewisse Menge schmutzige Angst, einen gewissen Mangel an phantasievollem Denken und einen gewissen niedrigen Hang zu kleinbürgerlicher Ehrsamkeit. Die Ästhetik steht höher als die Moral. Sie gehört einem geistigeren Gebiet an. Die Schönheit eines Dinges zu gewahren, ist der höchste Punkt, zu dem wir gelangen können. Selbst der Farbensinn ist in der Entwicklung des Individuums wichtiger als der Sinn für Gut und Böse. Die Ästhetik verhält sich zur Moral auf dem Gebiet bewußter Zivilisation wahrhaftig so, wie sich auf dem Gebiet der äußeren Welt die geschlechtliche Auslese zur natürlichen verhält. Die Moral macht wie die natürliche Auslese das Dasein möglich. Die Ästhetik macht wie die geschlechtliche Auslese das