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Stadium tritt ein, wenn das Leben die Oberhand bekommt und die Kunst heimatlos macht und in die Wildnis treibt. Dies ist die wahre Dekadenz, und das ist es, worunter wir jetzt leiden.

Nehmen wir zum Beispiel das englische Drama. Zuerst, in den Händen der Mönche, war die dramatische Kunst abstrakt, dekorativ, mythologisch. Dann nahm sie das Leben in ihren Dienst auf und unter Benutzung einiger äußerer Formen des Lebens schuf sie eine völlig neue Gattung lebender Wesen, deren Schmerzen schrecklicher waren als irgend ein Schmerz, den je ein Mensch empfunden hat, deren Lust stärker war als die Lust eines Liebenden, die den Zorn der Titanen und die Rache der Götter hatten, ungeheuerliche und prachtvolle Sünden, ungeheuerliche und prachtvolle Tugenden. Diesen Gestalten gab sie eine Sprache, die anders war als die des Alltags, eine Sprache voll tönender Musik und süßem Rhythmus, majestätisch in feierlichem Tonfall oder zart und weich in phantastischen Reimen, mit dem Geschmeide wunderschöner Worte und reich in stolzem Strom der Rede. Sie kleidete ihre Kinder in seltsame Gewandung und gab ihnen Masken, und auf ihr Gebot stieg die Welt der Antike aus ihrer marmornen Gruft empor. Ein neuer Cäsar schritt durch die Straßen des auferstandenen Rom, und mit purpurnen Segeln, im Takte der Flöten gerudert, fuhr eine neue Kleopatra über den Strom nach Antiochia. Aller Mythos und Traum und Legende nahm Stoff und Gestalt an. Die Geschichte ward völlig umgeschrieben, und es gab kaum einen einzigen unter den Dramatikern, der nicht erkannt hätte, daß der Gegenstand der Kunst nicht einfache Wahrheit, sondern vielfältige Schönheit ist. Darin waren sie völlig im Recht.

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/24&oldid=- (Version vom 1.8.2018)