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Die Kunst ist in der Tat eine Form der Übertreibung; und die Auslese, die der wahre Geist der Kunst ist, ist nichts anderes als eine besondere Form der Überspannung.

Aber das Leben zersprengte bald die Vollkommenheit der Form. Schon bei Shakespeare können wir den Anfang vom Ende gewahren. Er zeigt sich in der immer stärker werdenden Unterbrechung des Blankverses in den späteren Stücken, in der Vorherrschaft, die der Prosa eingeräumt, und in der übergroßen Wichtigkeit, die der Charakteristik beigelegt wurde. An den Stellen bei Shakespeare – und ihrer sind viele –, wo die Sprache ungehobelt, gewöhnlich, übertrieben, grillenhaft, selbst anstößig ist, trägt ganz und gar das Leben die Schuld, das nach einem Echo seiner eigenen Stimme begehrt und sich gegen das Dazwischentreten des schönen Stils wehrt, durch den allein dem Leben verstattet sein sollte, Ausdruck zu finden. Shakespeare ist in keinem Wege ein makelloser Künstler. Er liebt es zu sehr, unmittelbar ins Leben zu steigen, und die natürliche Ausdrucksweise des Lebens zu entlehnen. Er vergißt, daß die Kunst, wenn sie aufhört, durch das Medium der Phantasie zu scheinen, mit dem Schein auch das Sein verliert. Goethe sagt irgendwo: ,In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister‘, und die Beschränkung, wahrhaft die Bedingung jeder Kunst ist der Stil. Wir brauchen indessen nicht länger bei Shakespeares Realismus zu verweilen. „Der Sturm“ ist seine Dichtung des Widerrufs, die vollendetste aller Palinodien. Wir wollten mit alledem nur ausführen, daß das großartige Werk der Künstler aus der Zeit der Elisabeth und Jakobs in sich selbst den Keim seiner eigenen Auflösung enthielt und daß es zwar einige Stärke aus der Benutzung des Lebens

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/25&oldid=- (Version vom 1.8.2018)