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als Rohmaterial nahm, daß es aber seine ganze Schwäche aus der Benutzung des Lebens für die künstlerische Darstellung erhielt. Als unausbleibliches Ergebnis dieses Ersatzes eines schöpferischen Mittels durch ein nachahmendes, dieses Aufgebens einer Phantasieform, haben wir das moderne englische Melodrama. Die Charaktere in diesen Stücken reden auf der Bühne genau so wie sie hinter der Bühne reden würden; ihre Gesinnung ist so gemein wie ihre Sprache; sie verwechseln gegenseitig ihre Niedertracht und Mir und Mich; sie sind direkt aus dem Leben genommen und wiederholen seine Gewöhnlichkeit bis ins kleinste; sie stellen den schweren Gang, die Manieren, die Kleidung, den Tonfall wirklichen Pöbels dar; ohne aufzufallen, können sie vierter Klasse fahren. Und wie öde sind doch diese Stücke! Es gelingt ihnen nicht einmal, den Eindruck der Wirklichkeit hervorzubringen, nach dem sie streben und der der einzige Grund ihres Daseins ist. Als Darstellungsform ist der Realismus völlig gescheitert.

Das nämliche, was vom Drama und dem Roman gesagt wurde, gilt von den sogenannten dekorativen Künsten. Die ganze Geschichte dieser Künste in Europa ist ein Bericht über den Kampf zwischen dem Orientalismus, mit seiner unverhohlenen Ablehnung der Nachahmung, seiner Liebe zur künstlerischen Konvention, seinem Widerwillen gegen die Wirklichkeitsdarstellung irgend eines Naturgegenstandes, und unserm eigenen Geiste der Nachahmung. Überall, wo orientalischer Geist die Oberhand hatte, wie in Byzanz, Sizilien und Spanien durch direkte Berührung oder im übrigen Europa unter dem Einfluß der Kreuzzüge, hatten wir schöne und phantastische Kunst, in der die sichtbaren Dinge des Lebens in künstlerische Konventionen verwandelt sind,

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/26&oldid=- (Version vom 1.8.2018)