Seite:Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben.pdf/29

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Vivian: Ich versichere dich, es ist so, und das lustige an der ganzen Sache ist, daß die Geschichte von dem Kirschbaum völlig erfunden ist. Jedoch darfst du nicht glauben, daß ich über die künstlerische Zukunft Amerikas oder unseres eigenen Landes ganz verzweifelt bin. Höre weiter:

„Daß eine Wandlung eintreten wird, bevor das neunzehnte Jahrhundert zu Ende ist, bezweifeln wir in keiner Weise. Die Gesellschaft, die die langweilige und fördernde Unterhaltung derer müde ist, die weder Witz zur Übertreibung noch Genie zur Romantik haben; die des gescheiten Menschen überdrüssig ist, dessen Reminiszenzen sich immer aufs Gedächtnis stützen, dessen Behauptungen unweigerlich von der Möglichkeit beschränkt sind, und der jederzeit gewärtig sein muß, von einem gewöhnlichen Philister, der gerade da ist, in seiner Meinung bestärkt zu werden, die Gesellschaft muß früher oder später zu ihrem Führer, den sie verloren hat, dem kultivierten und spannenden Lügner zurückkehren. Wer der erste war, der ohne im geringsten auf der rauhen Jagd gewesen zu sein, den erstaunt aufhorchenden Höhlengenossen bei Sonnenuntergang erzählte, wie er das Megatherium aus der purpurnen Finsternis seiner Jaspishöhle herausgeschleift oder das Mammut im Einzelkampf erlegt und seine vergoldeten Stoßzähne heimgebracht habe, wissen wir nicht, und kein einziger unserer modernen Anthropologen, trotz all ihrer vielgepriesenen Wissenschaft, hat den gehörigen Mut gehabt, es uns zu berichten. Wie er auch geheißen und welchem Stamme er angehört hat, er war fürwahr der Gründer des geselligen Verkehrs. Denn das Ziel des Lügners ist lediglich zu gefallen, zu amüsieren, zu erfreuen. Er ist die wahre Stütze der gebildeten

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/29&oldid=- (Version vom 1.8.2018)