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daß das Leben die Kunst viel mehr nachahmt als die Kunst das Leben. Wir haben es alle in unsern Tagen in England erlebt, wie ein gewisser seltsamer und bezaubernder Schönheitstypus, den zwei phantasievolle Maler erfunden und auf die Spitze getrieben haben, das Leben derart beeinflußt hat, daß man bei jeder Veranstaltung und im Publikum jedes Kunstsalons hier die mystischen Augen aus dem Traum Rossettis sieht, den langen Elfenbeinhals, den seltsamen viereckigen Schnitt des Kinns, das wallende finstere Haar, das er so leidenschaftlich liebte, dort die süße Mädchenhaftigkeit der „Goldenen Stiege“, den blütengleichen Mund und die müde Anmut des „Laus Amoris“, das wildblasse Antlitz der Andromeda, die dünnen Hände und die gertengleiche Schönheit der Viviane aus „Merlins Traum“. Und immer ist es so gewesen. Ein großer Künstler erfindet einen Typus, und das Leben versucht ihn zu kopieren, in populärer Form herauszugeben, wie es ein unternehmender Verleger tut. Weder Holbein noch van Dyck haben in England gefunden, was sie uns gaben. Sie haben ihre Typen mitgebracht, und das Leben mit einer eifrigen Nachahmungsgabe unternahm es, dem Meister Modelle zu liefern. Die Griechen verstanden dies in ihrem lebhaften künstlerischen Instinkt und stellten die Statue des Hermes oder des Apollon in das Brautgemach, auf daß die junge Frau Kinder gebäre, die so schön seien wie die Kunstwerke, die sie in ihrer Verzückung oder ihren Schmerzen gewahrte. Sie wußten, daß das Leben durch die Kunst nicht nur zu Geistigkeit, zu tiefen Gedanken und Gefühlen, zu Seelenaufruhr und Seelenfrieden kommt, sondern daß es sich auch völlig nach den Linien und Farben der Kunst formieren, die Strenge des Pheidias und die Grazie des Praxiteles nachbilden

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/33&oldid=- (Version vom 1.8.2018)