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nachbilden müßte, und sie tat es. Es war ein offenbarer Fall dieses Nachahmungstriebes, von dem ich gesprochen habe, und ein äußerst tragischer.

Indessen will ich nicht länger bei solchen einzelnen Beispielen verweilen. Persönliche Erfahrung ist ein sehr fehlerhaftes und begrenztes Material. Ich will nur das allgemeine Prinzip feststellen: das Leben ahmt die Kunst weitaus mehr nach als die Kunst das Leben, und ich bin sicher, wenn du ernsthaft darüber nachdenkst, wirst du finden, daß das Wahrheit ist. Das Leben hält der Kunst den Spiegel vor, und bildet entweder sonderbare Typen nach, die eines Malers oder Bildhauers Phantasie gestaltet hat, oder verwirklicht im Tun, was die Dichtung erträumt hat. Wissenschaftlich zu sprechen: die Grundlage des Lebens – die Entelechie des Lebens, wie Aristoteles gesagt hätte – ist lediglich das Streben nach Ausdruck, und die Kunst bietet immer mannigfache Formen dar, durch die dieser Ausdruck erreicht werden kann. Das Leben greift danach und macht sie sich zu nutze, selbst wenn sie zu seinem eigenen Schaden dienen. Jünglinge haben Selbstmord begangen, weil Rolla es tat, sind von eigener Hand gestorben, weil Werther so starb. Denk daran, was wir der Imitatio Christi, was wir der Nachfolge Cäsars verdanken.

Cyrill: Das ist gewiß eine sehr absonderliche Theorie, aber, wenn du sie vollständig machen willst, mußt du zeigen, daß die Natur ebenso wie das Leben eine Nachahmung der Kunst ist. Bist du bereit, das zu beweisen?

Vivian: Mein Lieber, ich bin bereit, alles zu beweisen.

Cyrill: Also folgt die Natur dem Landschaftsmaler und nimmt von ihm ihre Wirkungen?

Vivian: Ganz gewiß. Woher sonst als von den Impressionisten

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/39&oldid=- (Version vom 1.8.2018)