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und heitere Seite des Lügens, so wie man es etwa bei den Gesellschaften der Kretenser übte. Es gibt viele andere Formen. Das Lügen zum Zweck des unmittelbaren persönlichen Vorteils, zum Beispiel Lügen aus moralischer Absicht, wie man es wohl nennt, war, wenn es schon in letzter Zeit geringschätzig betrachtet wird, in der antiken Welt äußerst populär. Athene lacht, wie Odysseus ihr „seine listig erdachten Worte“ sagt (wie William Morris es ausdrückt), und der Glorienschein der Verlogenheit leuchtet von der blassen Stirne des untadeligen Helden der Euripideischen Tragödie und versetzt die junge Frau aus einer der entzückendsten Oden des Horaz unter die Zahl der edlen Frauen der Vorzeit. Später wurde, was zuerst nur ein natürlicher Instinkt gewesen war, auf die Höhe bewußter Wissenschaft gehoben. Man verfaßte ausführliche Regeln zur Lenkung des Menschen, und ein wichtiger Literaturzweig nahm sich des Gegenstands an. Wenn man fürwahr an die treffliche philosophische Abhandlung des Sanchez über die ganze Frage denkt, muß man wirklich bedauern, daß noch niemand daran gedacht hat, eine billige Ausgabe der ausgewählten Werke dieses großen Kasuisten zu veranstalten. Ein kurzes Elementarbuch „Wann und wie gelogen werden soll“ würde ohne Zweifel, wenn es in anziehender Form und nicht zu teuer herausgegeben würde, viel gekauft werden, und würde für viele ernste und nachdenkende Menschen von großem praktischen Werte sein. Lügen um der Aufklärung der Jugend willen bildet die Grundlage der häuslichen Erziehung und ist daher noch lebendig unter uns; seine Vorzüge sind überdies in den ersten Büchern von Platos Republik so trefflich beleuchtet worden, daß es unnötig ist, hier dabei zu verweilen. Es ist eine Art des Lügens, zu der

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/49&oldid=- (Version vom 1.8.2018)