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wie sie es auf den prächtigen Karten tun, die noch aus Zeiten stammen, wo Geographiebücher tatsächlich lesbar waren. Drachen werden an öden Orten hausen, und der Phönix wird aus seinem Feuernest in die Lüfte steigen. Wir werden den Basilisk mit Händen greifen, und den Rubin im Kopf der Kröte sehen. Der Hippogryph wird in unserm Stall stehen und seinen goldenen Hafer malmen, und über unsern Häuptern wird der blaue Vogel schweben und von herrlichen, unmöglichen Dingen singen, von Dingen, die schön sind und nie geschehen, von Dingen, die nicht sind und die sein sollten. Aber bevor es soweit kommen kann, müssen wir die verloren gegangene Kunst des Lügens pflegen.“

Cyrill: Wir müssen also gleich damit beginnen, sie zu pflegen. Aber damit ich keinen Irrtum begehe, fasse mir die Lehren der neuen Ästhetik[WS 1], bitte, kurz zusammen.

Vivian: In Kürze also lauten sie so. Die Kunst drückt nie etwas anderes aus als sich selbst. Sie hat ein Leben für sich, gerade wie das Denken, und entfaltet sich rein und völlig auf eigenen Bahnen. Sie braucht in einer Zeit des Realismus nicht realistisch, in einer Zeit des Glaubens nicht spiritualistisch zu sein. Sie ist keineswegs das Geschöpf ihrer Zeit, steht im Gegenteil gewöhnlich in direktem Widerspruch zu ihr, und die einzige Geschichte, die in ihr liegt, ist die Geschichte ihres eigenen Werdegangs. Manchmal geht sie ihren Weg wieder zurück und belebt eine antike Form, wie es in der archaistischen Strömung der spätgriechischen Kunst und in der präraphaelitischen Bewegung unserer Tage geschah. Zu anderen Zeiten geht sie ihrer Zeit völlig voraus und schafft in einem Jahrhundert Werke, deren Verständnis, Würdigung und Genuß einem

  1. Vorlage: Asthetik
Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/51&oldid=- (Version vom 1.8.2018)