Seite:Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben.pdf/57

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

GILBERT (AM KLAVIER): NUN, lieber Ernst, worüber lachst du?

Ernst (blickt auf): Über eine prächtige Geschichte, die ich hier in dem Memoirenwerk gefunden habe, das hier auf deinem Tische lag.

Gilbert: Was für ein Buch? Aha! Ich habe es noch nicht gelesen. Ist es gut?

Ernst: Immerhin habe ich, während du gespielt hast, mit ziemlichem Vergnügen darin geblättert, obwohl mir sonst gewöhnlich moderne Memoiren mißfallen. Im allgemeinen sind sie von Leuten geschrieben, die entweder völlig das Gedächtnis verloren haben, oder die nie etwas Denkwürdiges getan haben, was indessen ohne Zweifel die wahre Erklärung ihres Erfolgs ist, da es unserem Publikum immer völlig behaglich zumute wird, wenn eine Mittelmäßigkeit zu ihm spricht.

Gilbert: Ja, das Publikum ist herrlich tolerant. Es ist nachsichtig gegen alles, außer der Genialität. Aber ich muß gestehen, ich liebe alle Memoiren. Und zwar um ihrer Form ebenso wie um ihres Inhalts willen. In der Literatur ist der reine Egoismus entzückend. Er fesselt uns in den Briefen von Menschen, die so verschieden sind wie Cicero und Balzac, Flaubert und Berlioz, Byron und Madame de Sévigné. Überall, wo wir auf ihn stoßen, und das ist sonderbarerweise ziemlich selten, ist er uns erfreulich und unvergeßlich. Die Menschheit wird immer Rousseau dafür lieben, daß er seine Sünden nicht einem Priester, sondern der Welt gebeichtet hat, und die liegenden Nymphen, die Cellini für das Schloß Königs Franz in Bronze goß, der grün und goldene Perseus sogar, der in der offenen Loggia in Florenz dem Mond den tödlichen Schrecken zeigt, der einst

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/57&oldid=- (Version vom 1.8.2018)