Seite:Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben.pdf/61

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

mir. Wenn ich Chopin gespielt habe, ist mir zumute, als hätte ich über Sünden geweint, die ich nie begangen habe, und über Tragödien Leid gehabt, die nicht meine eigenen sind. Die Musik scheint auf mich immer diese Wirkung auszuüben. Sie schafft mit eins eine Vergangenheit, die man nicht gekannt hat, und erfüllt einen mit einem Sinn für Schmerzen, die den eigenen Tränen vorher verborgen waren. Ich kann mir einen Menschen denken, der ein völlig gewöhnliches Leben geführt hat, der dann zufällig ein tief seltsames Musikstück hört und nun auf einmal entdeckt, daß seine Seele, ohne daß er es gewahr wurde, furchtbare Prüfungen durchgemacht hat und entsetzliche Genüsse oder wild romantisches Liebesleben oder große Entsagung erlebt hat. Also, erzähle mir die Geschichte, Ernst. Ich brauche Aufheiterung.

Ernst: O, sie wird wohl gar keine Bedeutung haben. Aber für mich war sie ein vorzügliches Beispiel für den tatsächlichen Wert der gewöhnlichen Kunstkritik. Eine Dame scheint den reuigen Akademiker, wie du ihn nennst, einmal im Ernst gefragt zu haben, ob sein berühmtes Bild „Ein Frühlingstag im Warenhaus Whiteley“ oder „In Erwartung des letzten Omnibus“ oder so ein ähnliches Bild ganz mit der Hand gemalt sei?

Gilbert: Und war es der Fall?

Ernst: Du bist doch unverbesserlich. Aber ernsthaft zu reden, was hat die Kunstkritik für einen Nutzen? Warum kann nicht der Künstler allein gelassen werden, auf daß er eine neue Welt schaffe, wenn er das will, oder, wenn nicht, die Welt, die wir bereits kennen, darstelle, deren wir alle, denke ich, längst müde wären, wenn die Kunst nicht mit ihrem schönen Geist der Komposition und ihrem ungemein sicheren Sinn für

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/61&oldid=- (Version vom 1.8.2018)