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gewesen, er dürfte neben ihm stehen. Der einzige Mann, der den Saum seines Gewandes berühren darf, ist George Meredith. Meredith ist ein Browning in Prosa, und Browning desgleichen. Er benutzte die Poesie als Mittel, Prosa zu schreiben.

Ernst: An dem, was du sagst, ist etwas, aber du sagst nicht alles. In vieler Hinsicht bist du ungerecht.

Gilbert: Es ist schwer, gegen die, die man liebt, nicht ungerecht zu sein. Aber kehren wir zu unserm eigentlichen Ausgangspunkt zurück. Was hattest du gesagt?

Ernst: Kurz folgendes: in den besten Zeiten der Kunst hat es keine Kunstkritiker gegeben.

Gilbert: Mir scheint, diese Behauptung ist nicht neu, Ernst. Sie hat all die Zähigkeit des Irrtums und all die Langweiligkeit eines alten Freundes.

Ernst: Sie ist wahr. Jawohl: es hilft nichts, daß du so zornig den Kopf schüttelst. Die Behauptung ist völlig wahr. In den besten Zeiten der Kunst gab es keine Kunstkritiker. Der Bildhauer hieb aus dem Marmorblock die große weiß schimmernde Gestalt des Hermes, die darin geschlummert hatte. Die Bildniswachser und Vergolder gaben der Statue Tönung und Deckung, und die Welt sah das Bildnis, verehrte es und war stumm. Er goß die glühende Bronze in die Sandform, und der Fluß roten Metalls erkühlte in edel geschwungene Linien und prägte sich zum Leib eines Gottes. Durch Emaille oder glänzende Edelsteine gab er den blicklosen Augen Leben. Hyazinthene Locken kräuselten sich unter seinem Meißel. Und wenn in so einem düsteren Tempel mit Freskobildern an den Wänden oder in säulengeschmücktem, sonnedurchflutetem Portiko das Kind der Leto auf seinem Sockel stand, dann verspürten die Vorübergehenden, ἁβρῶς βαίνοντες διὰ λαμπροτάτου αἰθέρος,

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/65&oldid=- (Version vom 1.8.2018)