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wie ein neues Wirksames in ihr Leben gekommen war, und träumerisch oder mit einem Gefühl seltsamer und belebender Freude gingen sie nach Hause oder zur Alltagsarbeit oder spazierten vielleicht durch die Stadttore zu der Feenwiese, wo der junge Phaedrus die Füße badete und im weichen Gras, unter den hohen im Winde flüsternden Platanen und dem blühenden Keuschbaum gelagert, an das Wunder der Schönheit zu denken anfing und in ungewohntem Schauder stille wurde. In jenen Tagen war der Künstler frei. Im Flußtal nahm er den zarten Ton in die Hände und formte ihn mit einem Stückchen Holz oder Knochen zu so entzückenden Gestalten, daß die Menschen sie ihren Toten als Spielzeug mitgaben, und wir finden sie noch im Staub der Gräber auf den gelben Berghängen bei Tanagra, und das verblichene Gold und ein Schein von Karmin weilt noch auf Haaren und Lippen und Gewändern. Auf den frischen Bewurf einer Wand, der mit glänzendem Sandix bemalt oder mit Milch und Safran gemengt war, malte er eine Gestalt, die mit müden Füßen durch die purpurnen, mit weißen Sternen besäten Asphodelosfelder schritt, eine Gestalt, „auf deren Brauen der ganze trojanische Krieg lag“: Polyxena, die Tochter des Priamus; oder er stellte Odysseus dar, den weisen, verschlagenen, wie er mit festen Stricken an den Mastbaum gebunden ist, damit er ohne Schaden dem Gesang der Sirenen lauschen kann, oder wie er am Ufer des durchsichtigen Acheron wandelt und die Seelen der Fische über den Kieselgrund schwimmen sieht; oder er malte die Perser, wie sie in ihren kurzen Hosen und mit der Mitra angetan bei Marathon vor den Griechen flohen, oder die Ruderschiffe, die in der kleinen Bucht von Salamis mit ihren erzenen Schiffsschnäbeln hell

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/66&oldid=- (Version vom 1.8.2018)