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Ernst: Du bist schrecklich launisch. Ich bestehe darauf, daß du über diese Sache mit mir sprichst. Du sagtest, die Griechen seien ein Volk von Kunstkritikern. Was für eine Kunstkritik haben sie uns hinterlassen?

Gilbert: Mein lieber Ernst, selbst wenn kein einziges Fragment von Kunstkritik aus den Tagen von Hellas oder des Hellenismus auf uns gekommen wäre, wäre es trotzdem wahr, daß die Griechen ein Volk von Kunstkritikern waren, und daß sie die Kritik der Kunst genau so erfunden haben, wie überhaupt die Kritik jedweder Art. Denn, alles in allem, was ist das erste, was wir den Griechen verdanken? Eben wovon ich spreche: den kritischen Geist. Und diesen Geist, den sie in den Fragen der Religion und der Wissenschaft, der Ethik und Metaphysik, der Politik und Erziehung übten, wandten sie ebenso auf die Fragen der Kunst an, und in der Tat haben sie uns für die zwei bedeutendsten und höchsten Künste das untadeligste System der Kritik hinterlassen, das die Welt je gesehen hat.

Ernst: Und welches sind die zwei bedeutendsten und höchsten Künste?

Gilbert: Das Leben und die Literatur, das Leben und der vollkommene Ausdruck des Lebens. Die Prinzipien des erstern, wie sie von den Griechen aufgestellt wurden, können wir in einem Zeitalter wie dem unsern, das so von falschen Idealen verzerrt ist, nicht verwirklichen. Die Prinzipien der letztern, wie sie sie aufstellten, sind in vielen Fällen so fein, daß wir sie kaum verstehen können. Da sie erkannten, daß die vollendete Kunst die ist, die am völligsten den Menschen in all seiner unendlichen Vielfältigkeit spiegelt, arbeiteten sie die Kritik der Sprache, der Sprache lediglich als Rohmaterial dieser Kunst, bis zu einem Grade aus, zu dem wir, mit unserm Betonungssystem

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/71&oldid=- (Version vom 1.8.2018)